09.01.15

Echt / Christoph Scheuring



"Es ist nämlich so, dass ich finde, dass es keinen intensiveren Augenblick gibt als einen Abschied. Also, ich meine, so einen Abschied von einem Menschen, der alles bedeutet, und wo sich das Herz schon verklemmt, wenn man nur daran denkt, dass er vielleicht irgendwann nicht mehr da ist."

Albert fotografiert Abschiede. In Hamburg am Bahnhof. Heimlich, denn nur nicht gestellte Fotos sind echt. Zeigen echte Gefühle, das was Menschen in Momenten des Schmerzes, der Trauer der Trennung wirklich fühlen. Oder zumindest das, was Albert hinein interpretiert. Denn schließlich ist es immer nur ein kleiner Augenblick aus einer großen Lebensgeschichte, den er mit seiner Kamera festhalten kann. Albert glaubt an die große Liebe, auch, wenn er durch die Trennung seiner Eltern erfahren musste, dass diese nicht bis ans Lebensende hält.

Auf einer seiner Fototouren trifft er auf Kati. Eine Schönheit, zumindest auf den zweiten Blick. Auf den ersten wirkt sie eher zottelig, ein bisschen verrucht, aber auch ein bisschen verloren. Diese Wirkung hat sie nicht nur auf Albert, sondern auch auf den Leser. Wo Kati genau lebt, lässt sich nur schwer in Erfahrung bringen. Der Bahnhof ist der Ort an dem sie sich häufig aufhält. Zusammen mit einer kleinen Gruppe Jugendlicher, die entgleist sind, in deren Leben kaum etwas eine Rolle spielt, außer die Beschaffung von Drogen. Kein guter Umgang für Albert, der aus einem sehr behüteten Umfeld stammt. Aber eben auch noch nichts erlebt hat. Nicht einmal die erste Liebe.

"Das Mädchen nähert sich ihm wie ein ängstlicher Hund, der mit eingeklemmtem Schwanz um ein bisschen Zuneigung bettelt. Geduckt und vorsichtig, als würde sie damit rechnen, jederzeit einen Tritt zu kassieren. Sie zog ihn am Ärmel und fragte irgendwas, aber der Typ wischte sie weg wie einen Krümel auf der Jacke. Sie tat mir so leid, wie sie danach dastand und ihn mit leeren Augen anschaute."

Liebe in verschiedene Facetten ist einer der Leitgedanken dieses Jugendromans der sich auf ganz unaufgeregte Weise, ganz klar und damit sehr echt, mit einer harten Thematik auseinandersetzt. Kinder ohne Zuhause, Drogenkonsum, Leben auf der Straße, all dem begegnen die beiden Protagonisten, die einen sehr unterschiedlichen Blickwinkel darauf haben. Kati, die schon vor langer Zeit ihre Familie verloren hat, im Heim gelebt hat und jetzt auf irgendeine Art am Abgrund zu stehen scheint und Albert, der zwar Scheidungskind ist, aber all diese Dinge bisher nur mal im Fernsehen gesehen oder darüber gelesen hat. Kontroverse Sichtweisen bedingt durch eigene Erfahrungen, Erlebnisse, vom Autor Christoph Scheuring, deutlich dargestellt und harmonisch miteinander verbunden. Erfahrungen, die unberechenbar machen, die dazu führen, dass Kati und viele andere Jugendliche den Blick für Werte und Wertigkeit aus den Augen verloren haben. Was ist noch von Wert, wenn man das wertvollste schon verloren hat? Weder materielle Dinge, noch Geld können das wiederbringen. Welchen Wert hat das Leben noch? Ein sehr trister Gedanke, der viele Jugendliche im Roman so sehr beschäftigt wie im "echten" Leben eben auch. Schicksale, die so oder so ähnlich täglich geschehen. Kinder, die allein sind, denen der Wert des Lebens entfallen ist und die sich hinter Mauern aus Lügen, hinter selbst zusammen gesponnenen Schutzwällen, hinter der Flucht in den Rausch, hinter Verhaltensauffälligkeiten und Gewalt verstecken, um nicht vor ihrer eigenen Haustür kehren zu müssen. Die eine Momentaufnahme stricken ähnlich der Fotos, die Albert macht.

" 'Liebe ist doch kein Gefühl. Das ist ... wenn der andere kotzen muss, dass du dann auch über der Schüssel hängst ... und dass du weißt, was der andere denkt, bevor er es denkt. Und dass du seine Höhle bist, wenn er Schutz braucht, und dass du ihn gegen jeden und alles verteidigst, auch wenn er im Unrecht ist.'"

Neben all der Schwere der Thematik, hat "Echt" auch etwas Leichtes. Albert, den Jungen, der etwas naiv, wie durch eine Kamera die Welt betrachtet, noch an das Gute und die große Liebe glaubt und beweist, dass auch ein kleiner Stein eine Lawine ins Rollen bringen kann. Wir begleiten ihn auf seinen ersten Schritten ins Erwachsenleben, schauen dabei zu, wie er seine eigenen Erfahrungen macht und wie er dadurch die Möglichkeit bekommt den Lebensweg einzuschlagen, der für ihn passend sein könnte. "Echt" ist echt harter Tobak, in Kombination mit dem Kontrast echt lockere Schreibe, echt gut umgesetzt. Inhalt und Buchoutfit passen perfekt zusammen, denn der vom Magellan gewählte Buchdeckel aus Pappe ist ohne Schnörkel, ohne Zusätze so klar und unverfälscht wie die Geschichte.


Buchinfo:


Magellan (Herbst 2014)
240 Seiten
14,95 €
Halbleinen mit Titelaufkleber
ab 13 Jahre

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