18.09.23

Unser letzter Sommer am Fluss | Jane Healey [Ü: Ulrike Brauns]



 

Juli 1973: Ruth und ihre Freundinnen nennen sich die Ophelia-Girls. Am Fluss stellen sie präraffaelitische Gemälde nach – bis etwas Tragisches passiert. Vierundzwanzig Jahre später zieht Ruth mit der siebzehnjährigen Tochter Maeve und ihrem Mann Alex in ihr einst prachtvolles Elternhaus zurück. Als Stuart, ein Jugendfreund von Ruth, für ein paar Wochen zu Besuch kommt, entflammen eine alte und eine neue Leidenschaft. Wie die viktorianische Villa beginnt die Familienfassade zu bröckeln – und es kommen Dinge ans Licht, die Ruth seit jenem verhängnisvollen Sommer zu vergessen versucht hat.
(Text & Cover: © Hanser; Grafik: © N. Eppner)

Es ist eine Welt voller Geheimnisse, in die Jane Healey uns entführt. Geheimnisse, Sehnsüchte, Scham. Ein Bild, das zwischen richtig und falsch verschwimmt. Schicksale, die herausgefordert werden, Lügen und das Verstecken des eigenen Ichs.

Es fiel mir anfangs schwer in die Geschichte hineinzukommen, da die Zeitsprünge zwischen Ruth Gegenwart und ihrer Jugend, zwischen ihrer und Maeves Geschichte nicht so klar abgegrenzt sind, das ich sie erst erkenne, als ich mich ein bisschen weiter eingelesen habe. Ein Stilmittel? Denn auch am Ende des Romans ist nicht ganz klar, ob beide Geschichten miteinander verwoben sind oder ob irgendeine der Figuren nur ein*e gekonnte Lügner*in ist. Und ob die Geschichten von Mutter und Tochter, von Eltern und Kindern überhaupt differenziert zu betrachten sind. Wie viel übernehmen wir von unseren Eltern? Wie viel beeinflusst ihr Handeln unser eigenes? Wie viele Entscheidungen treffen sie, die dazu führen, dass unser Leben einen ganz anderen Weg einschlägt?

Nach wenigen Seiten ensteht ein Sog, der mich das Buch kaum weglegen lässt. Es passiert so viel, dass mich berührt, ja auch erschüttert. Ich sehe Figuren ins Unglück rennen, ins offene Messer und möchte wissen wann es passiert und was dann mit ihnen passiert. Eine so intensiv spürbare Dramatik zieht sich vom Anfang bis zum Ende.

Wie bei einem Polaroid, das sich erst nach und nach vom schwarzen Bild zum Foto entwickelt, treten Geheimnisse zu Tage. Geheimnisse, die Schuld und Scham nach sich ziehen, die bei Betrachtung aus der Ferne ganz klar nach Unruhe und Unzufriedenheit, nach Wut und Trauer rufen.

"Hast du je das Gefühl, Ruth", fragt er und stemmt die Hände gegen den Fensterrahmen, "dass die Grenze zwischen dir und einer anderen Version von dir nur papierdünn ist? Als müsstest du nur niesen, nur, keine Ahnung, dich nur einmal um dich selbst drehen, und schon lässt du dich auf etwas ein, auf das du dich nicht einlassen solltest? Dass wir alle nur einen Schritt entfernt sind von der schlimmsten Version unserer selbst?"

Oberflächlich betrachtet ist "Unser letzter Sommer am Fluss" eine dramatische Liebesgeschichte mit dem Thema Kunst, künstlerisch tätig sein und vielleicht auch der Frage was Kunst darf. Tief drinnen sehe ich Strukturen, die ich gerne aufbrechen möchte. Patriarchale Strukturen, die Healeys Figuren so tief ins Unglück stürzen. Frauen, die einen klassischen Lebensweg gehen sollen und am Ende mit Nichts dastehen. Denen Ehe Schutz bietet, den sie nur bedürfen, weil ihr eigenes Leben so viel Angriffsfläche bietet. Männer, die männlich sein müssen, um akzeptiert zu werden. Angst vorm anders sein, die in Wut geäußert wird und ganze Leben zerstören kann.

Ich habe nach einer Auflösung gesucht, aber es war viel mehr eine Erlösung, die ich herbeigesehnt habe. Nicht Erlösung vom Roman, den ich uneingeschränkt empfehle, sondern von dem was die Protagonisten sich aufhalsen. Was sie denken ertragen zu müssen, um akzeptiert, um durchs Leben gehen zu können. Einem Leben, das sie auf einer Scheinwelt aufgebaut haben. Es gibt auch einen Erzählstrang, der mich hadern lässt. Der für mich nicht richtig einzuordnen ist. Der es mir erschwert mich in die Sicherheit meines Schubladendenkens zu flüchten. Der eine Ambivalenz in mir hervorruft, mit der ich während des Lesens extrem zu kämpfen hatte.

Das klingt so als sei "Unser letzter Sommer am Fluss" eine schwere Lektüre. Vielleicht düster. Aber das stimmt so nicht. Jane Healey versteht ihre Kunst, geht geschickt mit Worten um, setzt eine Poesie ein, die vermutlich einem dieser Ophelia Bilder gleichkommt, auf denen nicht zu unterscheiden ist, ob es die Leichtigkeit des Wasser ist, die beeindruckt oder die Tragik, die dahinter steckt. Ein perfekter Roman für die letzten Tage des Sommers. Für ausklingende Sommerhitze und das Gefühl von Veränderung, das die Herbstluft mitbringt.

"Ich habe die Kontrolle. Die Vergangenheit formt mich - meine Mängel, die Muster meiner Fehler-, aber ich bin es, die jetzt die Entscheidungen trifft, die beschließen kann, von früher zu lernen oder nicht."


Buchinfo:

Hanserblau (2023)
400 Seiten
Paperback 18,00 €


Rezenisonen: © 2023, Nanni Eppner

11.09.23

Mika im echten Leben | Emiko Jean (Ü: Charlotte Lungstrass-Kapfer)



 

Mika Suzukis Leben ist eine ziemliche Katastrophe: Ihre letzte Beziehung ist implodiert, für ihre Eltern ist sie eine konstante Enttäuschung und vor Kurzem wurde sie auch noch gefeuert. Doch ein Anruf ändert plötzlich alles: Ihre 16-jährige Tochter Penny, die sie als junges Mädchen zur Adoption freigeben musste, meldet sich überraschend und möchte ihre leibliche Mutter kennenlernen. Doch Mikas Leben ist alles andere als präsentabel und so erfindet sie spontan einige neue Aspekte hinzu, malt ihren Alltag in den schillerndsten Farben, erfindet einen gutaussehenden Freund, eine stylische Wohnung. Doch als Penny ihren Besuch ankündigt, gerät Mika in Panik. Wo soll sie das wundervolle Leben, von dem sie erzählt hat, nur herbekommen …
(Text & Cover: © dtv; Foto: © N. Eppner)

Es gibt diese Romane, die du beginnst und denkst: naja, das wird ganz nett und du wirst dich gut unterhalten fühlen und dann beendest mit den Gedanken: das war jetzt eine richtig gute Geschichte. So erging es mir mit "Mika im echten Leben". Gute Unterhaltung und obendrauf Tiefgang und Fragen, die mich eindringlicher beschäftigten, als ich es erwartet hätte.

Mikas Leben ist eher chaotisch. Sie weiß nicht mehr genau, ob es an dem Tag begann, an dem sie eine Tochter bekam, die von einem anderen Paar adoptiert wurde oder an dem Tag, an dem sie sich gegen ihre kühle herrische Mutter auflehnte und damit geordnete Bahnen und Strukturen verließ. Fakt ist: ihr Leben ist nichts, was sie vor ihrer nun 16-jährigen Tochter offen legen möchte und deshalb verändert sie zwei, drei, vielleicht auch vier Tatsachen bis plötzlich ein kompletter Schwindel daraus wird, der alles durcheinanderbringt.

Mika ist eine Protagonistin, mit der ich mich vom ersten Moment an anfreunden konnte. Ihre chaotische Art macht sie sehr sympathisch und es berührt mich wie sehr sie darum bemüht ist vor ihrer Tochter einen guten Eindruck zu machen. Das zeigt auch, in welchen Strukturen sie aufgewachsen ist. Ihre Eltern sind aus Japan in die USA ausgewandert, weil sie sich dort bessere Chancen für die Zukunft ihres Kindes erhofften und trafen dann dort auf eine so andere Kultur, die sich sehr von den eigenen Werten unterscheidet. Das spiegelt sich häufig in der Zerrissenheit und den kontroversen Anschauungen, die Mika und ihre Mutter haben, aber auch in der Identitätssuche, in der sich Penny, Mikas Tochter befindet. 

Mit dieser Thematik bin ich als Nicht-Migrantin nicht konfrontiert und ich mag wie Emiko Jean es umsetzt, um mich und andere Leser*innen dazu zu bringen, darüber nachzudenken. 

Die Suche nach der eigenen Identität ist der rote Faden in der Geschichte. Er beginnt bei Mikas Mutter, betrifft sie selbst und vor allem Penny, die bei Eltern aufwächst, die nicht ihre leiblichen sind und zudem eine andere Herkunft haben, was sich auch im Äußeren der Personen widerspiegelt. Aus beruflicher Erfahrung weiß ich wie schwierig die Situationen des Aufwachsens in Pflege- oder Adoptivfamilien sind, wie das wir sind nicht vom selben Blut immer im Raum stehen kann. Emiko Jean hat das richtig gut umgesetzt. Zeigt die Probleme, die damit einhergehen, auf Seiten der Eltern und der Kinder, aber auch, dass es funktionieren kann. Vor allem dadurch, dass offen damit umgegangen wird. Dass Fehler erlaubt sind und Elternschaft so oder so eine herausfordernde Aufgabe ist (ich sage nur Periodenparty...).

Emiko Jean ist es gelungen diese Themen in eine unterhaltsame Geschichte zu betten. Ich mag die Dialoge, den Humor, die Funken, die hier und da sprühen, die Generationenkonflikte und alle Figuren, egal ob in Haupt- oder Nebenrollen. 


Buchinfo:


dtv (2023)
448 Seiten
Paperback 16,95 €


Rezensionen: ©2023, Nanni Eppner

08.09.23

So weit der Fluss uns trägt | Shelley Read (Ü: Wibke Kuhn)



 

Am Fuße der Berge Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater und ihrem Bruder in rauer Abgeschiedenheit. Doch der Tag, an dem sie dem freiheitsliebenden Wil begegnet, verändert alles. Bald ist Victoria gezwungen, das Leben, das sie kennt, aufzugeben und in die Wildnis zu fliehen. Dort muss sie ums Überleben kämpfen – um ihr eigenes und um das ihres ungeborenen Kindes. Als sie endlich die Kraft findet, neu anzufangen, droht der Fluss, alles zu zerstören, was ihrer Familie seit Generationen ein Zuhause war.
Ein lebenskluger Roman über unsere Verbindung zur Natur, über Familie und die Stärke einer Frau, die Unglaubliches erlebt und doch niemals den Mut verliert.
(Text & Cover: © Penguin Randomhouse; Foto: ©N. Eppner)

Shelley Read hat einen Roman geschrieben von rauer Struktur. Vom Kratzen an den eigenen Bedürfnissen, Sehnsüchten, Gefühlen. Von der Wildheit der Natur und der, der Menschen. Von Hass und Liebe und wie nah diese Gefühle zusammen liegen. 

Victoria ist brav, sittsam, fleißig. Ganz anders als ihr Bruder, der seit dem Tod der Mutter Wut und Boshaftigkeit in sich trägt, übernimmt sie pflichtbewusst alle anfallenden Aufgaben. Im Haus und auf der Pfirischfarm der Familie. Sie spürt die Verbindung zu den Pfirsichbäumen, die schon seit Jahren im Besitz der Familie sind. Die dort sorgsam angezogen, veredelt und behütet werden. Sie weiß darum wie die Natur uns nährt.

Doch dann lernt sie eine andere Seite kennen. Eine andere Seite ihrer Heimat, ihrer Familie, der Natur, in der sie aufwuchs, der Menschen, die sie schon immer kennt und besonders eine andere Seite an sich selbst. Wil tritt in ihr Leben. Der hilfsbereite Junge mit dem schiefen Lächeln, der wegen seiner Hautfarbe verfolgt und geächtet wird. Sie erlebt die schönste und intensivste Zeit ihres Lebens, die jäh von einem Unglück unterbrochen wird. Victoria flieht in die Berge, wo sie Schutz findet und sich gleichzeitig mit der rauen Unsicherheit der Natur, des Wetters, der Jahreszeiten auseinandersetzen muss. 

Victorias Verbindung zur Natur hat mir besonders gut gefallen. Read romantisiert diese nicht, sondern zeigt woher sie kommt: durch Respekt und Empathie, Dankbarkeit und Fürsorge. Es gelingt ihr eine Atmosphäre zu erschaffen und eine Protagonistin, die so sehr das ist was sie lebt, dass sich bei mir ein Gefühl entwickelt, dass sich nur in der Natur einstellt: Ehrfurcht. Bewegende, stärkende Ehrfurcht. 

Victoria stellt sich dem Sturm entgegen. Sie bleibt nicht unversehrt, aber sie gewinnt an Resilienz. In meinen Gedanken ist sie keine große, Furcht einflößende Person, aber eine widerspenstige, widerständige Frau, die ihren Weg mit all seinen Höhen und Tiefen geht. Nicht aufgibt, obwohl die Täler zu überwiegen scheinen. 

Das ist nur ein Teil der Geschichte. Es gibt noch einen zweiten Handlungsstrang über den ich nicht sprechen möchte. Den Leser*innen selbst entdecken sollen und der so anrührend ist, dass es mir mehrfach die Tränen in die Augen trieb.

Es ist eine Geschichte der Natur, aber auch eine der Menschheit. Eine von Mut und davon, dass es immer mehrere Wege gibt. Darüber, dass wir uns zurückbesinnen, dass wir eins sind, mit dem Kreislauf der Natur, des Lebens und dass wir nur klar kommen, wenn wir dem ursprünglichen respektvoll begegnen. Es ist ein Roman, der atmosphärisch so großartig ist, so sehr zu fühlen ohne greifbar zu sein. Wut und Sturm, Liebe und Sonne, Berg und Hoffnung - alles wird eins. Eine Atmosphäre, wie sie uns nur selten begegnet. Große Empfehlung für alle und besonders für diejenigen, die "Der Gesang der Flusskrebse" von Delia Owens oder "River" von Donna Milner mochten


Buchinfo:

368 Seiten
Hardcover 24,00 €


Rezensionen: ©2023, Nanni Eppner



31.07.23

Das Café ohne Namen | Robert Seethaler



 

Wien im Jahr 1966. Robert Simon verdient sein Brot als Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt. Er ist zufrieden mit seinem Leben, doch zwanzig Jahre nach Ende des Krieges hat sich die Stadt aus ihren Trümmern erhoben. Überall wächst das Neue, und auch Simon lässt sich mitreißen. Er pachtet eine Gastwirtschaft und eröffnet sein eigenes Café. Das Angebot ist überschaubar, und genau genommen ist es gar kein richtiges Café, doch die Menschen aus dem Viertel kommen, und sie bringen ihre Geschichten mit – von der Sehnsucht, vom Verlust, vom unverhofften Glück. Sie kommen auf der Suche nach Gesellschaft, manche hoffen sogar auf die Liebe, und während die Stadt um sie herum erwacht, verwandelt sich auch Simons eigenes Leben.
(Text & Cover: © Ullstein, Foto: © N. Eppner)


Ein Morgen im Cafè. Für mich ein Moment der Ruhe, Auszeit oder auch der Freude, Glückseligkeit, der sozialen Interaktion, wenn ich mich dort mit einer Freundin treffe. Beim Kaffee oder Tee lässt es sich philosophieren, sagen wir manchmal Dinge, die wir sonst nicht so gern besprechen, werden Gedanken gelöst, geraten in Bewegung.

So ist es auch in Simons Café. Dem Ort, an dem sich die Menschen der Umgebung treffen. Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Gedanken, Gefühlen, Sehnsüchten. Manche bleiben geheim, viele werden ausgesprochen, Beziehungen werden aufgebaut und gebrochen. Simons Café tröstet, motiviert, holt auf den Boden der Tatsachen zurück. 

Das Leben ist kein Spaziergang und irgendwie doch, denn es ist beständig in Bewegung. Das erfahren auch die Protagonist*innen in "Das Café ohne Namen". Zum Beispiel der Ringer vom Jahrmarkt, der die beste Zeit hinter sich hat und verzweifelt versucht an Jugend und Erfolg festzuhalten und dessen Leben ein und Auf und Ab der Gefühle ist. 

Es sind die Höhen und Tiefen des Lebens, die unsere Protagonisten prägen und im Handeln beeinflussen. Mal mehr, mahl weniger aktiv reagieren sie darauf oder ertragen geduldig, was ihnen begegnet.

"Die Welt dreht sich immer schneller, da kann es schon passieren, dass es einige von denen, deren Leben nicht schwer genug wiegt, aus der Bahn wirft.
Ist es da nicht gut, wenn es einen Platz gibt, an dem man sich festhalten kann?"

Mich selbst sehe ich als stille Beobachterin im Café sitzen, ungeduldig abwartend wer als nächstes hereinkommen und mir seine oder ihre Geschichte erzählen wird. Trotz der Dramatik einiger Schicksale, mit der Seethaler auch nicht geizt, die dem ganzen aber nichts negatives, sondern eine gewisse Authentizität verleiht und irgendwie auch eine Form von Hoffnung gibt, freue ich mich auf jede einzelne Begegnung.

"Das Café ohne Namen" ist das perfekte Buch für einen Nachmittag im Café. Anrührend und geduldig, mit klarem Stil schreibt der Autor über Menschen, die vom Leben bewegt werden. Ich verfalle schnell dem Sog seiner Schreibe, mag das Buch nicht aus der Hand legen. Einzig mit der Zeit, in der es spielen soll, gehe ich nicht ganz d'accord. Diese Ruhe, diese Gelassenheit, Simons innere Zufriedenheit in seiner Anspruchslosigkeit, seiner Art mit wenig auszukommen, nichts hinterherzujagen, fühlt sich für mich mehr nach einer Geschichte aus der Jahrhundertwende an, als nach den 60 Jahren später, in denen das "Das Café ohne Namen" spielt. Ich musste mich manchmal daran erinnern in die richtige Zeit zu reisen.

"Das Café ohne Namen" gefällt mir so sehr. Ich mag es allen empfehlen, die entschleunigen wollen, die ein gutes Gespräch suchen, etwas Gesellschaft. Zum Glück stehen schon weitere Bücher des Autors im Regal, die definitiv ganz bald gelesen werden. 


Buchinfo:

288 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag 24,00 €


Rezensionen: ©2023, Nanni Eppner

28.06.23

Sparkling. Maries zauberhafte Welt | Angela Kirchner





 

Marie ist ein echtes Naturtalent, wenn es ums Zaubern geht! Nur mit der Konzentration will es nicht so recht klappen … Dabei ist die unverzichtbar, um die bunte Magie, die überall in unserer Welt verteilt ist, zu lenken und zu nutzen. Doch Marie denkt lieber an köstliche Törtchen und süße Leckereien, wodurch immer wieder sogenannte Sparkles von ihrem Zauber absplittern – kleine Funken, die für großes Chaos sorgen.Und das kann Marie jetzt so gar nicht gebrauchen. Denn ihr Adoptivvater und Lehrmeister Luuk ist spurlos verschwunden. Gemeinsam mit dem Nachbarsjungen Phillip und Gestaltwandler Alfred begibt Marie sich auf die Suche nach Luuk und lüftet dabei ein Geheimnis, das über das Schicksal aller bunten Magier entscheiden wird!
(Text & Cover: © S. Fischer; Foto: © N. Eppner)

Ich bin absolut verzaubert. Von Marie, von ihrer Geschichte und von all den mit so viel Liebe und Fantasie ausgedachten Haupt- und Nebenfiguren. Was ich an "Sparkling" allerdings am meisten mag: Angela Kirchner und ich haben definitiv den gleichen Humor. 

Angela schreibt Bücher für Kinder, wie sie mir selten begegnen. Sie sieht Kinder. Nimmt deren Wünsche wahr und weiß wo sie ihre Leser*innen abholen muss, um deren Fantasie mit Freude zu fördern und ihren Sprachschatz zu erweitern. Keine subtilen, knappen Sätze, sondern Anregungen zum Denken, zum Mitfiebern, ohne zu überfordern. So entsteht Wachstum in der Persönlichkeitsentwicklung. Mit viel Spaß. Pädagogisch wertvoller geht gar nicht.

Ich bin nun leider kein 10-jähriges Zielpublikum, sonst hätte ich augenblicklich so sein wollen wie Marie und hätte vielleicht auch versucht unseren Kater zu verzaubern, aber auch mit fast 30 Jahren Altersunterschied zu der vom Verlag empfohlenen Leserschaft, kann ich ungeniert mit Marie mitfiebern auf der Suche nach Luuk, ihrem verschollenen Pflegevater und Lehrmeister.

Dass der kein normaler Mensch ist, wird schnell klar. Er kann zaubern und Marie trägt das Potential in sich dies auch zu lernen. Dabei geht noch so einiges schief und nach Luuks Verschwinden ist sie im Versuch ihre neu gewonnenen Kenntnisse einzusetzen auch noch ganz auf sich allein gestellt. Dass da der ein oder andere Patzer wie bspw. ein sprechender Gartenzwerg passiert, ist wohl völlig legitim. Zum Glück lernt sie den besonnenen Philipp kennen. Mit seiner Unterstützung und der Hilfe von Alfred, dem Gestaltwandler, kommt sie einem gefährlichen Geheimnis auf die Schliche.

Es ist schon einige Wochen her, dass ich "Sparkling" gelesen habe, aber wenn ich jetzt an einzelne Passagen daraus zurückdenke, muss ich immer noch schmunzeln. Und das ist genau der Punkt, warum ich dieses Buch mag, warum es ideal ist, zum Lesen, zum Verleihen, zum Verschenken. Maries Geschichte macht Spaß. Es ist eine große Freude sie zu lesen und ich hoffe sehr, dass Angela Kirchner angeboten wird eine Serie daraus zu machen. Ich würde es sehr feiern.

Buchinfo:

304 Seiten
Gebundene Ausgabe 15,00 €

02.06.23

Sibir | Sabrina Janesch




 

Furchterregend klingt das Wort, das der zehnjährige Josef Ambacher aufschnappt: Sibirien. Die Erwachsenen verwenden es für alles, was im fernen, fremden Osten liegt. Dorthin werden Hunderttausende deutscher Zivilisten – es ist das Jahr 1945 – von der Sowjetarmee verschleppt, unter ihnen auch Josef. Kasachstan ist das Ziel. Dort angekommen, findet er sich in einer harten, aber auch wundersamen, mythenvollen Welt wieder – und er lernt, sich gegen die Steppe und ihre Vorspiegelungen zu behaupten.

Mühlheide, 1990: Josef Ambacher wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Woge von Aussiedlern die niedersächsische Kleinstadt erreicht. Seine Tochter Leila steht zwischen den Welten und muss vermitteln – und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie selbst den Spuk der Geschichte zu begreifen und zu bannen versucht.
(Text & Cover: ©Rowohlt; Foto: ©N. Eppner)

Sabrina Janesch konnte mich vor Jahren schon einmal mit "Katzenberge", ebenfalls einer Geschichte über Heimat, über Verlust, über Identität und Sehnsucht berühren. Jetzt hat sie es mit "Sibir" erneut getan.

Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, dass auch Zivilisten von der Sowjetarmee verschleppt wurden. Ich dachte es wären hauptsächlich Soldaten gewesen, die dort ihre Zeit in Kriegsgefangenschaft verbracht hätten. Mir war nicht klar, dass auch Menschen aus der (unschuldigen?) Bevölkerung nach Kasachstan umgesiedelt wurden. So wie Josef Ambacher, der mit seiner Familie 1945 dorthin gebracht wurde. 

Es klingt nicht nach Gefangenschaft, was Josef dort erlebt, aber es fühlt sich so ähnlich an. Ausgrenzung, Abgrenzung, Abspaltung. Von der dortigen Bevölkerung und irgendwie auch von der eigenen Identität, die dort nicht erwünscht ist. 

Jahre später kehrt Josef zurück nach Deutschland. Gründet eine Familie. 

Für die einen gilt Josef als Anführer, als Mann, an den man sich wenden kann, wenn es Fragen gibt. Für die anderen bleibt er der Sonderling. Der Ausländer, der sich manchmal komisch benimmt. Immer dann, wenn die Erinnerungen kommen. Wenn das Trauma, das er versucht hinter Fassaden wie Job, Haus, Familie zu verstecken die Flucht nach vorn antritt. Über Generationen kommt es zu Missverständnissen. Wer nicht weiß, wer er ist, kann auch nicht weitergeben wer man sein könnte. 

Sabrina Janesch berührt mich mit dieser Geschichte sehr. Ihre Sprache ist fein, klar, kühl, messerscharf, pointiert. Süchtig machend und doch kann ich im Buch auf gar keinen Fall zu viel am Stück lesen. Es bedrückt mich zu sehr. Diese Absurdität der Identität, die man diesen Menschen zuschreibt, die nirgendwo erwünscht sind. Überall als die Anderen gelten. Als die Ausländer, die sich nicht anpassen wollen und nicht verstanden werden. Die selbst nicht genau wissen welche Traditionen zu ihnen gehören und die so viele Dinge erlebt haben, dass nie ganz klar ist, ob nicht die simpelsten Situationen zum Trigger werden können, der Verlust, Leid und Suche wieder aufbricht.

Sabrina Janesch schreibt so, dass ich das Gefühl bekomme, dass diese Geschichte meine eigene ist. Ist sie glücklicherweise nicht. Ich hatte eine solide und beständige Kindheit, aber ich sehe diese Schema in den Familien von angeheirateten Familienmitgliedern, mit Großeltern, die fliehen mussten, Ur-Großvätern, die in Kriegsgefangenschaft waren, und ich sehe diese Geschichten in Gesichtern, die solche Erlebnisse heute durchgemacht haben oder immer noch durchleben und für die heute noch genauso wenig Verständnis aufgebracht wird wie damals. Es trifft mich zutiefst, dass wir uns im Kreise drehen, statt uns zueinander hin zu entwickeln.

"Sibir" ist ein wichtiger, präzise und bewegend erzählter Roman, der genau diese Probleme auf den Punkt bringt. Der etwas bewirken könnte. Ich wünsche mir, dass er gelesen wird. Von möglichsten vielen Menschen und vor allen von denen, die erstarrt sind in ihrem Mitgefühl.

Buchinfo:

352 Seiten
Gebunden mit Schutzumschlag 24,00 €


Rezensionen: ©2023, Nanni Eppner

28.05.23

Die spürst du nicht | Daniel Glattauer



 

Die Binders und die Strobl-Marineks gönnen sich einen exklusiven Urlaub in der Toskana. Tochter Sophie Luise, 14, durfte gegen die Langeweile ihre Schulfreundin Aayana mitnehmen, ein Flüchtlingskind aus Somalia. Kaum hat man sich mit Prosecco und Antipasti in Ferienlaune gechillt, kommt es zur Katastrophe.

Was ist ein Menschenleben wert? Und jedes gleich viel? Daniel Glattauer packt große Fragen in seinen neuen Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen kann und in dem er all sein Können ausspielt: spannende Szenen, starke Dialoge, Sprachwitz. Dabei zeichnet Glattauer ein Sittenbild unserer privilegierten Gesellschaft, entlarvt deren Doppelmoral und leiht jenen seine Stimme, die viel zu selten zu Wort kommen.
(Text & Cover: ©Hanser; Foto: ©N. Eppner)


Die spürst du nicht, die Aayana, die Schulfreundin von der Luise, die aus irgendeinem Land im Süden geflohen ist - so ganz genau kann man sich das ja gar nicht merken, wo da Krieg herrscht - und deshalb ist es auch kein Problem sie mit in den Urlaub zu nehmen. Eine gute Tat für das arme Kind, das ja sonst nichts hat und das bessert ja auch bissl das Image aus. Nach außen. Und im Innen fühlt man sich dann auch direkt besser, denn so eine gute Tat, die tut nicht jeder. So viel Großzügigkeit ist ja heute selten. Und wird ja auch Zeit, dass die Aayana eingegliedert wird, endlich schwimmen lernt, usw. auch wenn sie das nicht will. Manche musst du halt zu ihrem Glück zwingen. Und was Glück ist, das weiß die Gesellschaft ja immer noch am besten. Dass das arme Kind bei so viel Glück direkt umkommt, das konnte ja keiner ahnen...

Daniel Glattauer hat mich von der ersten Seite an gepackt. Sein vor Sarkasmus triefender Schreibstil, der die Politik mit all ihrer Schauspielerei auf den Arm nimmt, und die Gesellschaft, die so Fremdbestimmend verallgemeinert, gleich mit. Ich muss schmunzeln darüber wie sehr all das durch die Blume auf den Punkt bringt. Doch dann ändert sich die Stimmung. Denn das worüber wir noch schmunzeln können, ist bitterer Ernst. Glattauers Kritik reißt mir die Haut auf und hoffentlich auch all denen, die von Toleranz und  Empathie bisher nur gelesen haben, statt sie einzusetzen.

Fremdbestimmung auf vielen Ebenen. So weit gehend, dass Ängste nicht erkannt, dass eigene Wünsche und Bedürfnisse alles überschatten und keinen Raum mehr geben. Nicht dafür andere zu sehen, aber auch nicht für eigene Wünsche und Bedürfnisse. Es erzeugt einen Kokon, in dem Emotionen eingesperrt werden. Ohne meine eigenen Gefühle zu spüren, kann ich auch nicht die der anderen wahrnehmen, aber die Blase aus Scheinheiligkeit scheint eher schick zu sein, als die Frage nach dem ehrlichen "Wie geht es dir?" Keine Schwäche zeigen, nur funktionieren, nur abliefern, was andere sehen wollen. Scharfsinnig dargstellt durch die Familie Strobl-Marinek.

Aayanas Geschichte dagegen ist eine ganz andere. Eine von Verlust, Schmerz, Leid und Trauma. Eine, die gerade sehr vielen Menschen passiert, und die von uns im reichen Deutschland nicht gehört werden möchte. Bitte nicht mit echten Problemen in unserem luxuriösen Alltagsleid stören. Bitte kein Mitgefühl fordern. Und ganz unbedingt nicht erwarten, dass wir uns in irgendeiner Form auch nur im kleinsten Einschränken. Etwas, das mich schon sehr lange beschäftigt und mitnimmt. Ich wünsche mir, das wir bitte Augen und Herz öffnen, hinschauen und zumindest ansatzweise versuchen zu verstehen. Wenn wir schon nicht bereit sind zu helfen, dann können wir doch wenigstens dafür sorgen, dass wir es nicht noch schlimmer machen mit Doppelmoral und fadenscheiniger Hilfsbereitschaft.

Für mich eins der besten Bücher des Jahres. Große Leseempfehlung. Insbesondere für Diejenigen, die sagen so was können sie nicht lesen oder das interessiert sie nicht.


Buchinfo:

304 Seiten
Gebunden mit Schutzumschlag 25,00 €


Rezensionen: ©2023, Nanni Eppner