09.05.15

Das Ende von Eddy / Édouard Louis



Eddy lebt in einem kleinen, rückständischen und ärmlichen Dorf im Norden Frankreichs. Er ist anders als die anderen Jungs im Ort. Er bewegt sich anders, er spricht anders, er hat andere Interessen. Für seine Schulkameraden ist das ausreichend, um ihn zu verspotten. Er wird Opfer ihrer verbalen und physischen Gewalt und weiß bald selbst nicht mehr, ob er das ist, was man ihm vorwirft zu sein, oder ob er ein ganz normaler Junge ist, so wie andere auch.

"Die Tritte in den Bauch nahmen mir die Luft, ich konnte nicht mehr atmen. Ich riss den Mund auf, so weit ich konnte, um Sauerstoff einzuatmen, ich blähte die Brust, aber die Luft wollte nicht hinein; ein Gefühl, als wären meine Lungen unvermittelt mit einem dickflüssigen Saft gefüllt, mit Blei. Mein Körper zitterte, schien mir nicht mehr zu gehorchen."

Eddy ist ganz klar ein Opfer. Opfer von Gewalt, Opfer von Misstrauen gegenüber Unbekanntem, Opfer von Angst gegenüber Unbekanntem und Opfer einer Familie, in der es schon immer Opfer gegeben hat.

Täglich steht Eddy Gefahren gegenüber, die ihn zermürben. Beginnend in der eigenen Familie, endend in der Schule und im "Freundes"kreis.

Der Vater ein Säufer, wie auch schon dessen Vater. Einzig die Eigenschaft andere zu verprügeln, hat dieser vorerst nicht übernommen. Dafür ist dieses Genmaterial auf den Bruder übergesprungen, der kleingeistig, wie die anderen Geschwister auch, denkt, dass Gewalt und rauer Umgang zum guten Ton dazu gehören. Wer nicht säuft, nicht schlägt, nicht vögelt, ist kein richtiger Mann. Wer beim Anblick eines Mädchens keinen Steifen kriegt, ist eine Verabscheuungswürdige Kreatur. So einer wie Eddy eben. Wertlos und Nichtsnutzig.

Die Mutter kalt, gefühllos und in Selbstmitleid versunken. Die Augen so sehr auf sich selbst und das Ansehen der Familie gerichtet, dass kein Blick mehr für Eddys Not übrig ist.

Und Not hat er reichlich. Deutlich sichtbar in Blutergüssen und Verletzungen, aber vor allem auch innen drin. In seiner Seele, seinen Gedanken, die um nichts anderes kreisen als darum wer er ist, wie er zu dem werden kann, der er sein sollte und warum ihm das nicht möglich ist.

"Zuerst kommt man nicht darauf zu fliehen, weil man gar nicht weiß, dass es ein Anderswo gibt."

Édouard Louis hat einen sehr schockierenden und bewegenden Roman geschrieben, der bei mir manchmal Übelkeit hervorgerufen hat. Es ist kaum auszuhalten, welche Demütigungen Eddy über sich ergehen lassen muss, aber vor allem auch, wie allein er damit und seinen seelischen Qualen ist. Angelehnt ist die Geschichte an Édouard Louis' eigene. Er hat es geschafft aus der dörflichen Provinz, in der jeder Scheuklappen trägt, demotiviert ist und in eigenem Elend versinkt, in ein Leben in dem er Anerkennung bekommt. Höchste Anerkennung von meiner Seite für einen Roman, in der er in höchster sprachlicher Qualität, poetisch wie dramatisch seine eigene Zerrissenheit darstellt. Ohne wertend zu sein und auch das Verhalten seiner Eltern, seiner Geschwister und Mitmenschen so aufzuzeigen, dass der Leser sich Gedanken darüber macht wie es zu solch einem Vorgehen kommen kann. Menschen, die durch erlebtes und erlerntes in Rollen gepresst wurden, aus denen sie sich nur schlecht befreien können.

Édouard Louis hat es geschafft sich zu befreien. Setzt sich ein gegen Homophobie, versucht den Blickwinkel der Menschen zu erweitern, Verständnis zu wecken und ermahnt sie Achtung voreinander zu haben.

Buchinfo:


S. Fischer (2015)
208 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag
18,99 € 
Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel

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