Etta ist 83, als sie
aufbricht das Meer zu sehen. Weil sie in letzter Zeit sehr viel
vergisst, trägt sie in ihrer Tasche einen Zettel mit den wichtigsten
Daten. Wie sie heißt, wie der Name ihres Ehemanns lautet und welche
Personen in ihrem Leben von Bedeutung sind. Neben ihrem Mann Otto,
ist das vor allem Russell, seit etlichen Jahrzehnten ein treuer
Freund des Ehepaars.
In Ettas
Vergangenheit gibt es viele Schatten, die nun wieder durch ihr
Blickfeld huschen. Die sie und auch Otto – und das schon seit
vielen Jahren – ängstigen und beunruhigen. Ganz tiefe Wunden hat
der Krieg hinterlassen, in dem nicht nur Otto gekämpft hat, sondern
so viele andere junge Menschen, die dem Paar einmal wichtig waren.
Der Krieg hat damals alles verändert und ist nach wie vor in den
Köpfen derer, die direkt oder indirekt daran teilgenommen haben.
„[…]
Ich trage dein Foto in der Tasche auf der Seite ohne Pistole. Zum
Ausgleich.“
Etta zeigt typische
Verhaltensweisen von Demenzpatienten. Dazu gehört, dass die
Vergangenheit sie einholt, für sie wieder präsent wird. Vergangenes
fühlt sich gegenwärtig an. Unschöne Dinge – in Ettas Fall –
die Grund genug wären, alles hinter sich lassen zu wollen und
einfach wegzurennen. Begleitung findet Etta in James, dem Kojoten. Ob
es ihn wirklich gibt, oder ob er ein Gespinst ihrer Fantasie ist –
ebenfalls ein Symptom von Demenz – kann der Leser entsprechend
seiner eigenen Vorstellungen mit in die Geschichte einfließen
lassen.
Autorin Emma Hooper,
die mit „Etta und Otto und Russell und James“ ein starkes Debüt
veröffentlicht hat, das auf Anhieb in mehreren Ländern erfolgreich
war, spielt mit dem Leser. Mit Fantasie und Vorstellungskraft, sowie
dem vom Wunschdenken getriebenen handeln. Für einige Handlungen
Ettas gibt Hooper klare Handlungsstränge vor, für einiges viele
verschiedene und wieder andere bleiben offen, so dass der Leser
selbst einfügen kann, wie die Geschichte weitergehen könnte oder
was Hooper mit diesem Erzählstrang wohl meint.
„Wörter
sind stark. Das Stärkste überhaupt.“
Dieses Spiel mit
Vorstellung ist das, was Etta täglich begegnet. Nicht selten
verliert sie sich in ihrer eigenen Fantasie, muss mit dem vorlieb
nehmen, was für sie der Realität entspricht und doch schon lange
keine mehr ist. Schwierig für den Betroffenen, aber noch schwieriger
für Angehörige. Otto meistert die mit der Krankheit einhergehenden
Probleme ganz wunderbar. Treu steht er seiner Etta zur Seite, gibt
ihr Freiheit, wartet auf sie, wie sie einst auf ihn und hält sich am
steten Glauben fest, dass sie ihn liebt, egal, was sie macht oder wer
sie gerade ist. Ein Glaube, der auch die Freundschaft zu Russell seit
Ewigkeiten stärkt. Er, der Spurensucher, der Fährtenleser, der
kluge Kopf, der immer für seine Freunde da ist. Egal wann, egal wie.
„Etta und Otto und
Russell und James“ ist eine zärtliche, intensive und liebevolle
Geschichte über eine Krankheit, mit der umzugehen nicht ganz einfach
ist und viel Geduld erfordert. Emma Hooper entwirft zauberhafte
Charaktere, die ich schnell lieb gewonnen habe und sehr inspirierend
finde. Immer den Kopf oben tragend, immer gewillt weiter zu machen,
unbeirrbar in ihrer Liebe und Zuneigung zueinander. Der Aufbau ihrer
Geschichte, die in kleinen Kapiteln auf verschiedenen Ebenen, mal in
der Vergangenheit, mal in der Gegenwart, mal von dieser, mal von
jener Person, erzählt wird, schafft eine weiche Atmosphäre,
durchdrungen von der Härte, mit der das Leben manchmal um sich
schlägt. Ganz besonders gut gefällt mir das Ende, das den Charakter
des Buches, dem Leser Freiraum für Fantasie und eigene Gedankengänge
zu lassen, perfekt einfängt und durchzieht. Eine ganz klare
Leseempfehlung.
Buchinfo:
Droemer (September 2015)
336 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag
19,99 €
Übersetzung: Michaela Grabinger
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