10.01.17

Meine geniale Freundin - Elena Ferrante





Sie könnten unterschiedlicher kaum sein und sind doch unzertrennlich, Lila und Elena, schon als junge Mädchen beste Freundinnen. Und sie werden es ihr ganzes Leben lang bleiben, über sechs Jahrzehnte hinweg, bis die eine spurlos verschwindet und die andere auf alles Gemeinsame zurückblickt, um hinter das Rätsel dieses Verschwindens zu kommen.

Im Neapel der fünfziger Jahre wachsen sie auf, in einem armen, überbordenden, volkstümlichen Viertel, derbes Fluchen auf den Straßen, Familien, die sich seit Generationen befehden, das Silvesterfeuerwerk artet in eine Schießerei aus. Hier gehen sie in die Schule, die unangepasste, draufgängerische Schustertochter Lila und die schüchterne, beflissene Elena, Tochter eines Pförtners, beide darum wetteifernd, besser zu sein als die andere. Bis Lilas Vater seine noch junge Tochter zwingt, dauerhaft in der Schusterei mitzuarbeiten, und Elena mit dem bohrenden Verdacht zurückbleibt, eine Gelegenheit zu nutzen, die eigentlich ihrer Freundin zugestanden hätte.
(Text & Cover: (c) Suhrkamp, Foto: (c) N. Eppner)

Der Einstieg in den Roman ist nicht ganz einfach. Aber das ist der Kontakt mit Raffaella Cerullo, von ihrer Freundin Elena, Erzählerin des Romans, Lila genannt, sowieso nicht. Nie. Ihre Reaktionen sind so unvorhersehbar wie das Wetter, ihr Temperament so stark wie ein Wintersturm. Was ihr heute gefällt, kann sie morgen zur Weißglut treiben. Ihre Gedanken stehen nie still. Sie betrachtet, grübelt und seziert. Bildet sich ihre eigene Meinung und weiß genau was sie nicht will.

Eigenschaften, die im Neapel der fünfziger Jahre nicht zwangsläufig erwünscht sind. Die Alten betrachten sie mit Misstrauen, die Jungen schauen zu ihr auf. Vor allem die männlichen Exemplare ihres Alters und diejenigen, die weit darüber hinausgehen. Von ihr geht eine Faszination aus, die weit über einem schönen Aussehen steht. Sich mit ihr einzulassen kann zu starken Verbrennungen führen.

Für Elena ist sie der Anker in ihrem Leben. Diejenige, an der sie sich misst, die sie aufreibt und antreibt. Elena bekommt die Möglichkeit zu lernen, sich schulisch weiterzubilden, was im Rione, ihrem Viertel von Neapel, nicht unbedingt zu Anerkennung führt. Dort ist man festgefahren in Denken und Handeln. Alles soll so bleiben, wie es bisher war. Männer führen Tätigkeiten aus, die Blut und Schweiß kosten, Frauen heiraten die Männer, die am härtesten arbeiten. Ein Ausbruch aus diesem Trott ist unmöglich. Jeder bleibt der, der er schon seit Generationen ist. Einmal arm, immer arm - Hauptsache nicht aus der Reihe springen.

Frustriert von diesem Denken, das wie ein grauer Schleier über dem Rione liegt, es düster und farblos erscheinen lässt, beginnt es zu brodeln. Es scheint als müsse man die Mauern mit Gewalt einreißen. Das ist man so gewohnt. Gewalt ist seit Jahren, Jahrzehnten, Generationen, seit dem ein oder anderen Krieg, seit Vergehen an unschuldigen Menschen, ein Thema in den Familien. 

Die neuen Generationen, die Jugendlichen, die versuchen ihre Scheuklappen abzulegen, möchten sie loswerden. Doch wie, wenn sie immer wieder Steine in den Weg gelegt bekommen und keine anderen Lösungswege erlernt haben, als mit Gewalt zu reagieren. Ein Teufelskreis aus Frustration, Angst und Rückschlägen.

Mittendrin Lila und Elena. Zwei Mädchen, die nicht mit dem Strom schwimmen. Die eine, weil es das Schicksal gut mit ihr meint, die andere, weil sie nicht anders kann. Kein Wunder, dass sie zueinander finden. Und doch ist die Freundschaft nicht erzwungen. Sie ist echt mit all ihren Höhen und Tiefen, mit all den Verletzungen und Freuden, all dem Ungleichgewicht, das zu Freundschaften dazu gehört.

Nachdem ich in "Meine geniale Freundin" hinein gefunden habe, hat mich das Buch nicht mehr losgelassen. Der Sog der von Lila ausgeht, hat mich ebenso gepackt wie Elena, die so abhängig von ihrer Freundin scheint. Es ist eine geniale Geschichte über Freundschaft, aber auch über Wandel. Über Möglichkeiten, die jeder einzelne besitzt. Darüber wie schnell uns Frustration überrennt und wie schnell sie in Gewalt umschlägt, wenn wir nicht auf unser Verhalten und unsere Wünsche achten. 

Lila Cerullo ist nun in meinem Kopf und wird dort noch eine ganze Weile festsitzen. Ihre Art hat sich mir eingebrannt. Stimmt mich nachdenklich. Sorgt dafür, dass ich einige Dinge anders betrachten werde. Ich liebe es, wenn es einE AutorIn schafft die fiktionale Realität seines/ihres Romans mit dem realen Leben zu verweben. Wenn das Buch seine Wurzeln ausstreckt und sich seinen Platz in meinem Leben sucht.

Ich wusste nichts über Neapel. Schon gar nicht darüber, wie sich das Leben in den fünfziger Jahren dort abspielte. Ich verfüge nun nicht unbedingt über mehr Fakten, habe aber den Eindruck, selbst ziemlich genau fühlen zu können, was die Bewohner damals dort fühlten. Elena Ferrante ist das Pseudonym einer Schrifstellerin, die unerkannt bleiben möchte, um sich ganz und gar dem Schreiben widmen zu können. Um all ihre Intensionen, ihre Gefühle und Gedanken ungestört aufs Papier bringen zu können. Ohne Ablenkung. Ein Wunsch, der sich deutlich in ihrer Sprache, ihrer etwas eigensinnigen Schreibe, ausdrückt. Mich hat sie so sehr mitgerissen, dass ich es kaum erwarten kann, den nächsten Teil zu lesen.


Suhrkamp (August 2016)
422 Seiten
Gebunden mit Schutzumschlag
22,00 €
Übersetzung: Karin Krieger


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Zeichen und Zeiten


Band 2: Die Geschichte eines neuen Namen (ET: 10.01.2017)
Band 3: Die Geschichte der getrennten Wege (ET: 08.05.2017)
Band 4: Die Geschichte des verlorenen Kindes (ET: 09.10.2017)





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