"Schöne Seelen" so lautet der Titel des neusten Romans
des in der Schweiz lebenden Autors Philipp Tingler. Mit der Wahl dieser
Alliteration stehen Bezeichnung des Buches und dessen Inhalt in ganz argem
Gegensatz. An Tinglers Protagonisten ist sicher vieles, wenn nicht fast alles
schön - das meiste davon mithilfe chirurgischer Eingriffe oder dem feinen
Händchen von Stylisten, Inneneinrichtern, Gestaltern usw. - bis auf deren
Inneres. "Keine schöne Seelen" oder "Leere Seelen" würde
schon im Titel den Inhalt auf den Punkt bringen. Doch so springt dem Leser
Tinglers bissige Ironie direkt vom Cover entgegen. Hervorragend.
" '[...] Ich muss dich nicht daran erinnern, Viktor, dass wir in einem Milieu leben, das physisch und moralisch überaus flexibel ist und dessen willkürlich zusammengestapelte Umgangsformen jedes Gefühl von Artigkeit, Bescheidenheit und Erziehung beständig beleidigen. [...]' "
Zum zweiten Mal ist Schriftsteller Oscar Canow einer der
Hauptcharaktere im Roman. Vermutlich ist er auch eine der wenigen Figuren ist,
die tatsächlich einen Charakter besitzen. Zumindest soweit er dazu in der Lage
ist angesichts seiner schweren Kindheit, unangenehmen Jugend und weiteren
Ereignissen in seinem Leben, die man in der Gesellschaft, in der er sich nun
bewegt besser verdrängt. Aufgrund seiner (Charakter) Eigenschaft Neugier und
der sich zur Zeit aufdrängenden Langeweile, geht er einen Deal mit seinem
besten Freund Viktor ein, der über Schwierigkeiten mit Luxusweibchen Mildred
klagt, die Ehe zu ihr aber auf gar keinen Fall aufgeben möchte. Guter Rat ist
teuer - im wahrsten Sinne des Wortes - und so soll zur Lösung der Probleme eine
Therapie bei einem renommierten Psychiater angestrebt werden. Viktor, der
jedoch keine Lust auf diese Therapie hat und nur seiner Frau zuliebe überhaupt
den Gedanken daran trägt, möchte seine freie Zeit lieber ins Theaterspiel
investieren. Oscar springt für ihn ein und nimmt an den Sitzungen bei Doktor
Hockstätter teil. Ebenfalls ein bisschen Theater, möglicherweise eine
Schmierenkomödie. Aber kann man einem Psychiater überhaupt etwas vorgaukeln?
Und ist Oscar in der Lage so sehr in die von Viktor vorgegebene Rolle zu
schlüpfen ohne seine eigene mit einzubringen?
"Er sah Oskar starr in die Augen, als er deklamierte: 'Abgewandten Geistes vertut man seine Zeit, in ihrer Welt, Herr Canow, einer Welt, deren Bewohner sich langweilen und deren Gemüter deshalb erregt und gereizt sind, verdämmernd zwischen Gefallsucht und Geziertheit, verwüstet und erschöpft durch künstliche Aufregung, zu allen Affären und Abenteuern gelaunt, auch wenn sie zuletzt vor Gericht ausgetragen werden müssen! Oder im Alkohol enden. [...]' "
Tinglers Schreibe konnte mich vom ersten Satz an überzeugen, der
Inhalt nicht direkt von Anfang an, danach aber umso mehr. Fast 50 Seiten lang
bekommen wir einen Einblick in die Gesellschaft, in der Oscar und Viktor sich
bewegen. Oberflächliche Menschen, denen nichts wichtig zu sein scheint, außer
sehen und gesehen zu werden und dabei eine Rolle zu spielen, mit der sie nach
außen hin glänzen ohne auch nur kleinste Details aus dem Inneren preis zu
geben. Eine Gesellschaft in der es keinen Individualismus mehr gibt und in der
einzelne Personen vergessen haben, was in ihnen drin steckt. Menschen, denen
lediglich die künstlich erzeugte Anerkennung wichtig ist. Menschen, die auf
mich wirken, als wären nicht nur einzelne Körperteile mit Botox und Silikon
verändert, sondern eine ganze menschliche Hülle damit gefüllt worden.
"Vor der Kausalität sind wir alle gleich. Wir wollen aber nicht gleich sein. Nichts ist uns verhasster, als eingereiht zu werden. Auch die landesüblichen Neurosen sind viel schematisierter, als ihre Besitzer glauben."
Dargestellt werden sie in bester Ironie. Klug und sehr bissig
geschrieben. Ein Erzählton, wie er den Lesern leider zu wenig begegnet. Nicht
selten musste ich lachen aufgrund der dort dargestellten Dummheit und
Oberflächlichkeit, auf die sich Protagonisten wie aus dem wahren Leben
gegriffen, einbilden zum besseren Teil der Gesellschaft zu gehören. Wie
austauschbar sie sind, wie wertlos sie sich machen aufgrund der Vereinfachung
ihrer eigenen Person, der Angleichung an viele andere, wird ihnen nicht, dem
Leser aber immer mehr bewusst. Ist ein Leben, in dem alles und jeder schön ist,
gleich ein schönes Leben? Was macht Charakter aus? Wer hat einen (Gewndolyne
Rosenstock nicht! Alwine Smid auch nicht!)? Mit diesen und vielen weiteren
psychologischen wie philosophischen Fragen (hello Freud!) konfrontiert Tingler
seine Leser und bringt damit deren Gedankenfluss so sehr in die Gänge, dass man
fürs Lesen Zeit und Ruhe mitbringen muss, um alles genaustens betrachten zu
können. Zeit, die ich für diese großartige Schreibe, die psychologischen
Betrachtungsweisen und eine Gesellschaft, zu der ich in der Realität keinerlei
Kontakt suche, die mich in diesem Falle aber köstlich amüsiert, gerne
investiere.
Buchinfo:
Kein & Aber (2015)
336 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag
22,00 €
Kein & Aber auf Facebook
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