Die
vielen Leben der Amory Clay
Amory Clays Leben
ist schon immer etwas anders, als das der anderen. Auf Wunsch des
Vaters, der später versucht sie mit in den Tod zu reißen, weil er
Angst hat allein zu sterben, bekommt sie als Baby diesen androgynen
Namen, der für Amorys Gegenüber nicht immer eindeutig als männlich
oder weiblich einzustufen ist. Eine Unklarheit, die ihr im späteren
Leben zu Gute kommt, denn einer Frau ist es weder in den 30er, noch
40er oder 50er Jahren einfach als Fotografin zu arbeiten. Wird dieser
Beruf doch größtenteils von Männern ausgeübt und auch als
patriarchalisches Domizil betrachtet.
Doch Amory lässt
sich nicht beirren, hat ihr Ziel klar vor Augen, weiß auch nicht,
was sie sonst machen soll, denn außer zum Fotografieren fühlt sie
sich sonst zu nichts berufen. Ihr Onkel Greville, in den sie sich
unsterblich verliebt, bietet ihr die Möglichkeit erste Erfahrungen
als seine Assistentin zu sammeln und verschafft ihr durch finanzielle
Unterstützung ein Sprungbrett, das ihr eine erste Reise ins Ausland
ermöglicht. Gesellschaftsfotografie ist nichts für sie. Sie will
heraus stechen, mit ihren Fotos auffallen, später etwas damit
bewirken. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sie noch keine 25
ist, als sie in ihren ersten Skandal verwickelt ist und später als
Kriegsberichterstatterin in Vietnam lebt.
„'Du
bist sehr impulsiv, Amory, weißt du. Unglaublich eigensinnig.'
'Unglaublich
dumm.'
'Ja,
so kann man es auch ausdrücken. Das könnte dir im Leben noch
Schwierigkeiten einbringen.'“
Wer sich nicht
getraut hat, zuzugeben, dass er die Fotografin Amory Clay nicht
kennt, deren Namen noch nie zuvor gehört oder eins ihrer Fotos
gesehen hat, der darf beruhigt aufatmen, denn obwohl der Roman wie
eine Biografie aufgebaut und perfekt mit historischen Ereignissen
verwoben, sowie mit Fotografien ausgestattet ist, die wohl überlegt
für Untermalung der Geschichte sorgen, ist die eigensinnige Britin
eine Boyds Fantasie entsprungene Figur. Wie es ihm gelungen ist so
stark, so lebhaft, so authentisch als Mann die Perspektive einer Frau
darzustellen, ist für mich ein Rätsel, aber völlig faszinierend.
Ich habe nicht das Gefühl einer erfundenen Gestalt nachzurennen,
sondern meine Zeit tatsächlich mit Amory Clay zu verbringen, deren
Beschreibung ihres Lebens einen unglaublichen Sog entwickelt.
Bis ins kleinste
Detail ist die Figur der Amory Clay durchgeplant. Ihre verschiedenen
Entwicklungsstadien, vom jungen Mädchen mit schier unerreichbarem
Ziel vor Augen, das im Schatten bedeutender Männer lebt und sich
erst einmal verlieren muss, um sich selbst zu finden. Von der jungen
Frau, die verschiedene Wege gehen muss, um auf den richtigen zu
gelangen, denjenigen, der ihr ein gewisses Maß an Glück beschert,
denn für volle Glückseligkeit trägt sie einfach zu viel
Melancholie in sich. Ein Erbstück ihres Vaters, was soll sie dagegen
tun? Bis hin zur Frau, die so viel Leben in sich aufgenommen hat,
dass sie diesem irgendwann überdrüssig wird.
„'Wir alle sehen
die Welt mit eigenen Augen. Das ist nicht weiter ungewöhnlich. Genau
darum geht es ja im Grunde – wir alle haben eine eigene,
einzigartige Sichtweise.'“
Mir war Boyd bisher
nur vom Namen bekannt. Doch nun möchte ich gerne weitere Werke des
Autors lesen, der mich beeindruckt hat mit seinem Vermögen solche
eine polarisierende Figur zu entwerfen und zeitgleich einen Roman zu
schreiben, der Fotografie bzw. die Möglichkeit mehr in einem
Menschen zu sehen, als der erste Blick vermag, aufzuzeigen. Damit
schafft er zwischen den Zeilen die Verbindung zur Arbeit eines
Schriftstellers, der ebenso Szenen erkennt, wo andere vorbei schauen
und diese so zu inszenieren, dass etwas daraus entsteht. Dass sie
lebendig und zu einem großen Ganzen verflochten werden.
„Die Fotografin“
ist der einnehmende Roman über eine Persönlichkeit von großer
Präsenz. Sprachlich an die darin angestimmte Atmosphäre angepasst,
mit wechselwirkenden Stimmungslagen ausgefüllt, war es für mich der
pure Genuss, Amory Clay auf ihrem Lebensweg zu begleiten.
Buchinfo:
Berlin Verlag
(Februar 2016)
560
Seiten
Gebunden
mit Schutzumschlag
24,00
€
Originaltitel:
Sweet Caress
Übersetzung:
Patricia Klobusiczky / Ulrike Thiesmeyer
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Deine Rezi ist klasse weil sie einiges bestätigt was ich beim lesen des Klappentextes bereits vermutet habe;)
AntwortenLöschenIch möchte die nächsten Tage das Hörbuch dazu hören und freue mich jetzt umso mehr drauf :)
LG Ela
Hey,
Löschenfreut mich, dass ich deine Vorfreude steigern konnte ;)
Ich wünsche dir viel Spaß mit dem Hörbuch und bin gespannt, wie es dir gefällt.
Liebe Grüße
Nanni