Die Binders und die Strobl-Marineks gönnen sich einen exklusiven Urlaub in der Toskana. Tochter Sophie Luise, 14, durfte gegen die Langeweile ihre Schulfreundin Aayana mitnehmen, ein Flüchtlingskind aus Somalia. Kaum hat man sich mit Prosecco und Antipasti in Ferienlaune gechillt, kommt es zur Katastrophe.
Was ist ein Menschenleben wert? Und jedes gleich viel? Daniel Glattauer packt große Fragen in seinen neuen Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen kann und in dem er all sein Können ausspielt: spannende Szenen, starke Dialoge, Sprachwitz. Dabei zeichnet Glattauer ein Sittenbild unserer privilegierten Gesellschaft, entlarvt deren Doppelmoral und leiht jenen seine Stimme, die viel zu selten zu Wort kommen.(Text & Cover: ©Hanser; Foto: ©N. Eppner)
Die spürst du nicht, die Aayana, die Schulfreundin von der Luise, die aus irgendeinem Land im Süden geflohen ist - so ganz genau kann man sich das ja gar nicht merken, wo da Krieg herrscht - und deshalb ist es auch kein Problem sie mit in den Urlaub zu nehmen. Eine gute Tat für das arme Kind, das ja sonst nichts hat und das bessert ja auch bissl das Image aus. Nach außen. Und im Innen fühlt man sich dann auch direkt besser, denn so eine gute Tat, die tut nicht jeder. So viel Großzügigkeit ist ja heute selten. Und wird ja auch Zeit, dass die Aayana eingegliedert wird, endlich schwimmen lernt, usw. auch wenn sie das nicht will. Manche musst du halt zu ihrem Glück zwingen. Und was Glück ist, das weiß die Gesellschaft ja immer noch am besten. Dass das arme Kind bei so viel Glück direkt umkommt, das konnte ja keiner ahnen...
Daniel Glattauer hat mich von der ersten Seite an gepackt. Sein vor Sarkasmus triefender Schreibstil, der die Politik mit all ihrer Schauspielerei auf den Arm nimmt, und die Gesellschaft, die so Fremdbestimmend verallgemeinert, gleich mit. Ich muss schmunzeln darüber wie sehr all das durch die Blume auf den Punkt bringt. Doch dann ändert sich die Stimmung. Denn das worüber wir noch schmunzeln können, ist bitterer Ernst. Glattauers Kritik reißt mir die Haut auf und hoffentlich auch all denen, die von Toleranz und Empathie bisher nur gelesen haben, statt sie einzusetzen.
Fremdbestimmung auf vielen Ebenen. So weit gehend, dass Ängste nicht erkannt, dass eigene Wünsche und Bedürfnisse alles überschatten und keinen Raum mehr geben. Nicht dafür andere zu sehen, aber auch nicht für eigene Wünsche und Bedürfnisse. Es erzeugt einen Kokon, in dem Emotionen eingesperrt werden. Ohne meine eigenen Gefühle zu spüren, kann ich auch nicht die der anderen wahrnehmen, aber die Blase aus Scheinheiligkeit scheint eher schick zu sein, als die Frage nach dem ehrlichen "Wie geht es dir?" Keine Schwäche zeigen, nur funktionieren, nur abliefern, was andere sehen wollen. Scharfsinnig dargstellt durch die Familie Strobl-Marinek.
Aayanas Geschichte dagegen ist eine ganz andere. Eine von Verlust, Schmerz, Leid und Trauma. Eine, die gerade sehr vielen Menschen passiert, und die von uns im reichen Deutschland nicht gehört werden möchte. Bitte nicht mit echten Problemen in unserem luxuriösen Alltagsleid stören. Bitte kein Mitgefühl fordern. Und ganz unbedingt nicht erwarten, dass wir uns in irgendeiner Form auch nur im kleinsten Einschränken. Etwas, das mich schon sehr lange beschäftigt und mitnimmt. Ich wünsche mir, das wir bitte Augen und Herz öffnen, hinschauen und zumindest ansatzweise versuchen zu verstehen. Wenn wir schon nicht bereit sind zu helfen, dann können wir doch wenigstens dafür sorgen, dass wir es nicht noch schlimmer machen mit Doppelmoral und fadenscheiniger Hilfsbereitschaft.
Für mich eins der besten Bücher des Jahres. Große Leseempfehlung. Insbesondere für Diejenigen, die sagen so was können sie nicht lesen oder das interessiert sie nicht.
Buchinfo:
304 Seiten
Gebunden mit Schutzumschlag 25,00 €
Rezensionen: ©2023, Nanni Eppner
Großartige Rezi! Du sprichst mir aus der Seele! Ich habe das Buch auch erst gelesen und rezensiert. Daniel Glattauer ist ein großartiger gesellschaftskritischer Roman gelungen, der nachhallt!
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Martina
Vielen Dank, liebe Martina. Ja, absolut. Und ich finde es extrem beeindruckend wie er nach und nach eine Stimmung aufbaut, die sich extrem beengend anfühlt. Unangenehm, ein bisschen wie fremdschämen, nur noch intensiver.
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