02.06.23

Sibir | Sabrina Janesch




 

Furchterregend klingt das Wort, das der zehnjährige Josef Ambacher aufschnappt: Sibirien. Die Erwachsenen verwenden es für alles, was im fernen, fremden Osten liegt. Dorthin werden Hunderttausende deutscher Zivilisten – es ist das Jahr 1945 – von der Sowjetarmee verschleppt, unter ihnen auch Josef. Kasachstan ist das Ziel. Dort angekommen, findet er sich in einer harten, aber auch wundersamen, mythenvollen Welt wieder – und er lernt, sich gegen die Steppe und ihre Vorspiegelungen zu behaupten.

Mühlheide, 1990: Josef Ambacher wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Woge von Aussiedlern die niedersächsische Kleinstadt erreicht. Seine Tochter Leila steht zwischen den Welten und muss vermitteln – und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie selbst den Spuk der Geschichte zu begreifen und zu bannen versucht.
(Text & Cover: ©Rowohlt; Foto: ©N. Eppner)

Sabrina Janesch konnte mich vor Jahren schon einmal mit "Katzenberge", ebenfalls einer Geschichte über Heimat, über Verlust, über Identität und Sehnsucht berühren. Jetzt hat sie es mit "Sibir" erneut getan.

Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, dass auch Zivilisten von der Sowjetarmee verschleppt wurden. Ich dachte es wären hauptsächlich Soldaten gewesen, die dort ihre Zeit in Kriegsgefangenschaft verbracht hätten. Mir war nicht klar, dass auch Menschen aus der (unschuldigen?) Bevölkerung nach Kasachstan umgesiedelt wurden. So wie Josef Ambacher, der mit seiner Familie 1945 dorthin gebracht wurde. 

Es klingt nicht nach Gefangenschaft, was Josef dort erlebt, aber es fühlt sich so ähnlich an. Ausgrenzung, Abgrenzung, Abspaltung. Von der dortigen Bevölkerung und irgendwie auch von der eigenen Identität, die dort nicht erwünscht ist. 

Jahre später kehrt Josef zurück nach Deutschland. Gründet eine Familie. 

Für die einen gilt Josef als Anführer, als Mann, an den man sich wenden kann, wenn es Fragen gibt. Für die anderen bleibt er der Sonderling. Der Ausländer, der sich manchmal komisch benimmt. Immer dann, wenn die Erinnerungen kommen. Wenn das Trauma, das er versucht hinter Fassaden wie Job, Haus, Familie zu verstecken die Flucht nach vorn antritt. Über Generationen kommt es zu Missverständnissen. Wer nicht weiß, wer er ist, kann auch nicht weitergeben wer man sein könnte. 

Sabrina Janesch berührt mich mit dieser Geschichte sehr. Ihre Sprache ist fein, klar, kühl, messerscharf, pointiert. Süchtig machend und doch kann ich im Buch auf gar keinen Fall zu viel am Stück lesen. Es bedrückt mich zu sehr. Diese Absurdität der Identität, die man diesen Menschen zuschreibt, die nirgendwo erwünscht sind. Überall als die Anderen gelten. Als die Ausländer, die sich nicht anpassen wollen und nicht verstanden werden. Die selbst nicht genau wissen welche Traditionen zu ihnen gehören und die so viele Dinge erlebt haben, dass nie ganz klar ist, ob nicht die simpelsten Situationen zum Trigger werden können, der Verlust, Leid und Suche wieder aufbricht.

Sabrina Janesch schreibt so, dass ich das Gefühl bekomme, dass diese Geschichte meine eigene ist. Ist sie glücklicherweise nicht. Ich hatte eine solide und beständige Kindheit, aber ich sehe diese Schema in den Familien von angeheirateten Familienmitgliedern, mit Großeltern, die fliehen mussten, Ur-Großvätern, die in Kriegsgefangenschaft waren, und ich sehe diese Geschichten in Gesichtern, die solche Erlebnisse heute durchgemacht haben oder immer noch durchleben und für die heute noch genauso wenig Verständnis aufgebracht wird wie damals. Es trifft mich zutiefst, dass wir uns im Kreise drehen, statt uns zueinander hin zu entwickeln.

"Sibir" ist ein wichtiger, präzise und bewegend erzählter Roman, der genau diese Probleme auf den Punkt bringt. Der etwas bewirken könnte. Ich wünsche mir, dass er gelesen wird. Von möglichsten vielen Menschen und vor allen von denen, die erstarrt sind in ihrem Mitgefühl.

Buchinfo:

352 Seiten
Gebunden mit Schutzumschlag 24,00 €


Rezensionen: ©2023, Nanni Eppner

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