18.09.23

Unser letzter Sommer am Fluss | Jane Healey [Ü: Ulrike Brauns]



 

Juli 1973: Ruth und ihre Freundinnen nennen sich die Ophelia-Girls. Am Fluss stellen sie präraffaelitische Gemälde nach – bis etwas Tragisches passiert. Vierundzwanzig Jahre später zieht Ruth mit der siebzehnjährigen Tochter Maeve und ihrem Mann Alex in ihr einst prachtvolles Elternhaus zurück. Als Stuart, ein Jugendfreund von Ruth, für ein paar Wochen zu Besuch kommt, entflammen eine alte und eine neue Leidenschaft. Wie die viktorianische Villa beginnt die Familienfassade zu bröckeln – und es kommen Dinge ans Licht, die Ruth seit jenem verhängnisvollen Sommer zu vergessen versucht hat.
(Text & Cover: © Hanser; Grafik: © N. Eppner)

Es ist eine Welt voller Geheimnisse, in die Jane Healey uns entführt. Geheimnisse, Sehnsüchte, Scham. Ein Bild, das zwischen richtig und falsch verschwimmt. Schicksale, die herausgefordert werden, Lügen und das Verstecken des eigenen Ichs.

Es fiel mir anfangs schwer in die Geschichte hineinzukommen, da die Zeitsprünge zwischen Ruth Gegenwart und ihrer Jugend, zwischen ihrer und Maeves Geschichte nicht so klar abgegrenzt sind, das ich sie erst erkenne, als ich mich ein bisschen weiter eingelesen habe. Ein Stilmittel? Denn auch am Ende des Romans ist nicht ganz klar, ob beide Geschichten miteinander verwoben sind oder ob irgendeine der Figuren nur ein*e gekonnte Lügner*in ist. Und ob die Geschichten von Mutter und Tochter, von Eltern und Kindern überhaupt differenziert zu betrachten sind. Wie viel übernehmen wir von unseren Eltern? Wie viel beeinflusst ihr Handeln unser eigenes? Wie viele Entscheidungen treffen sie, die dazu führen, dass unser Leben einen ganz anderen Weg einschlägt?

Nach wenigen Seiten ensteht ein Sog, der mich das Buch kaum weglegen lässt. Es passiert so viel, dass mich berührt, ja auch erschüttert. Ich sehe Figuren ins Unglück rennen, ins offene Messer und möchte wissen wann es passiert und was dann mit ihnen passiert. Eine so intensiv spürbare Dramatik zieht sich vom Anfang bis zum Ende.

Wie bei einem Polaroid, das sich erst nach und nach vom schwarzen Bild zum Foto entwickelt, treten Geheimnisse zu Tage. Geheimnisse, die Schuld und Scham nach sich ziehen, die bei Betrachtung aus der Ferne ganz klar nach Unruhe und Unzufriedenheit, nach Wut und Trauer rufen.

"Hast du je das Gefühl, Ruth", fragt er und stemmt die Hände gegen den Fensterrahmen, "dass die Grenze zwischen dir und einer anderen Version von dir nur papierdünn ist? Als müsstest du nur niesen, nur, keine Ahnung, dich nur einmal um dich selbst drehen, und schon lässt du dich auf etwas ein, auf das du dich nicht einlassen solltest? Dass wir alle nur einen Schritt entfernt sind von der schlimmsten Version unserer selbst?"

Oberflächlich betrachtet ist "Unser letzter Sommer am Fluss" eine dramatische Liebesgeschichte mit dem Thema Kunst, künstlerisch tätig sein und vielleicht auch der Frage was Kunst darf. Tief drinnen sehe ich Strukturen, die ich gerne aufbrechen möchte. Patriarchale Strukturen, die Healeys Figuren so tief ins Unglück stürzen. Frauen, die einen klassischen Lebensweg gehen sollen und am Ende mit Nichts dastehen. Denen Ehe Schutz bietet, den sie nur bedürfen, weil ihr eigenes Leben so viel Angriffsfläche bietet. Männer, die männlich sein müssen, um akzeptiert zu werden. Angst vorm anders sein, die in Wut geäußert wird und ganze Leben zerstören kann.

Ich habe nach einer Auflösung gesucht, aber es war viel mehr eine Erlösung, die ich herbeigesehnt habe. Nicht Erlösung vom Roman, den ich uneingeschränkt empfehle, sondern von dem was die Protagonisten sich aufhalsen. Was sie denken ertragen zu müssen, um akzeptiert, um durchs Leben gehen zu können. Einem Leben, das sie auf einer Scheinwelt aufgebaut haben. Es gibt auch einen Erzählstrang, der mich hadern lässt. Der für mich nicht richtig einzuordnen ist. Der es mir erschwert mich in die Sicherheit meines Schubladendenkens zu flüchten. Der eine Ambivalenz in mir hervorruft, mit der ich während des Lesens extrem zu kämpfen hatte.

Das klingt so als sei "Unser letzter Sommer am Fluss" eine schwere Lektüre. Vielleicht düster. Aber das stimmt so nicht. Jane Healey versteht ihre Kunst, geht geschickt mit Worten um, setzt eine Poesie ein, die vermutlich einem dieser Ophelia Bilder gleichkommt, auf denen nicht zu unterscheiden ist, ob es die Leichtigkeit des Wasser ist, die beeindruckt oder die Tragik, die dahinter steckt. Ein perfekter Roman für die letzten Tage des Sommers. Für ausklingende Sommerhitze und das Gefühl von Veränderung, das die Herbstluft mitbringt.

"Ich habe die Kontrolle. Die Vergangenheit formt mich - meine Mängel, die Muster meiner Fehler-, aber ich bin es, die jetzt die Entscheidungen trifft, die beschließen kann, von früher zu lernen oder nicht."


Buchinfo:

Hanserblau (2023)
400 Seiten
Paperback 18,00 €


Rezenisonen: © 2023, Nanni Eppner

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