07.01.21

Neandertal | Claire Cameron


 

Die Welt vor 40.000 Jahren. Ein besonders strenger Winter hat die letzte Sippe der Neandertaler hart getroffen, nur wenige haben überlebt. Unter ihnen auch „Mädchen“, die älteste Tochter. Nun bricht die Familie auf zu dem jährlichen Treffen, um einen geeigneten Partner zu finden. Doch die raue und unwirtliche Natur fordert ihren Tribut. „Mädchen“ und „Kümmerling“, ein Bastard ungewisser Herkunft, bleiben allein zurück. Als die Zeit der Winterstürme naht, erkennt Mädchen, dass es nur eine Möglichkeit gibt, ihr Volk zu retten, auch wenn sie dafür ein großes Opfer bringen muss. In der Jetztzeit arbeitet die schwangere Archäologin Rosamund fieberhaft daran, neue Neandertal-Artefakte zu bergen, bevor ihr Kind auf die Welt kommt. Über Jahrtausende verbunden durch gemeinsame urweibliche Erfahrungen, geht die Geschichte beider Frauen zentralen Themen im Leben aller Frauen auf den Grund.
(Text & Cover: © btb; Foto: © N. Eppner)


Ich muss gestehen: ohne den Instagram Lesekreis Mariaslesekreis hätte ich nie zu "Neandertal" gegriffen. Die Zeit der Neandertaler interessiert mich nicht sehr. Mir reichen die Informationen aus dem Ötzi-Museum im Urlaub und ich glaube der eine hat mit den anderen gar nichts zu tun. 

Claire Cameron konnte mich mit ihrer Geschichte, die auf zwei Zeitebenen - vor 40.000 Jahren und 21. Jahrhundert - trotzdem in ihren Bann ziehen. Wider erwarten war es kein Roman, dessen evtl. romantisierte Handlung in der Zeit der Neandertaler angesiedelt ist. So oder ähnlich meine Vorstellungen des Buches. In "Neandertal" steckt viel mehr drin. Es ist eine Geschichte über Familie, über deren Wichtigkeit, das Bild der Frau und deren Stellung in der Gesellschaft. Ja, auch in der Gesellschaft der Neandertaler, die zwar von geringer Anzahl, aber umso intensiver ist. Jede*r einzelne ist bedeutend fürs Überleben.

Es gibt also diese Neandertalerin, die im Schoße ihrer kleinen Sippe aufwächst. Diese besteht aus zwei Brüdern, der jungen Frau, der großen Mutter und einem zugelaufenen Mickerling. Bald wird die Neandertalerin fortgehen müssen, eine eigene Familie gründen, der ältere Bruder eine Frau suchen. Basierend auf rudimentären Trieben. Allen voran: überleben wollen. Die Neandertalerin ist wichtig in ihrer Gruppe. Sie hat ihre feste Aufgabe, die zum Überleben beiträgt. Nur gemeinsam können sie es schaffen. Als Einheit und doch zählt jede individuelle Persönlichkeit. Ich habe das Gefühl, dass Individualität und Persönlichkeit groß geschrieben werden. Natürlich ist es fürs Überleben wichtig, dass die Frau Kinder bekommt, denn je größer die Gruppe, desto stärker ist sie. Aber sie wird nicht nur als Frau gesehen, nicht darauf reduziert, dass sie gebärfähig ist. Sie ist klug und stark und das ist für die Familie wichtig. Die Familie hat einen hohen Stellenwert.

Demgegenüber steht Rose, eine Frau mittleren Alters. Ich denke in Medizin und Gesellschaft wird sie als alte Erstgebärende bezeichnet. Sie ist schwanger und berufstätig. Sie liebt ihren Beruf und möchte gerne Mutter sein. Zwei Lebensumstände, die sich scheinbar ausschließen. Sobald sie ihre Schwangerschaft preisgibt, verändert sich der Blick ihrer Mitmenschen auf ihre Arbeit. Man unterstellt ihr nicht mehr so kompetent zu sein, nicht mehr rational zu handeln und schon gar nicht mehr Leistungsbereit zu sein, was als wichtigste berufliche Fähigkeit gilt. Sie wird als Mensch in der Berufswelt abgewertet. Im privaten kämpft sie mit der finanziellen Versorgung, denn die wirtschaftliche Unterstützung ist gering.

An der Gegenüberstellung der beiden Frauen und ihrer Lebensumstände verdeutlicht Claire Cameron die Situation von Frauen und Familie in der heutigen Gesellschaft. Wie sehr deren Werte in den vergangenen Jahrtausenden verloren gegangen sind. Ich stelle mir die Frage woran das liegen könnte? 

Vor allem während der Vergangenheitsebene ist Camerons Sprache kühl, klar, fast sachlich. Damit entgeht sie einer emotionalen Romantisierung der beiden Lebensgeschichten und fokussiert meinen Blick als Leserin. Ich entdecke viel zwischen den Zeilen, fühle mich in meiner Rolle als Frau und Mutter oft verstanden, nicke bei Missständen, die Cameron ganz nebenbei und doch offensichtlich aufdeckt. Ganz sicher entsprechen nicht alle dargestellten Alltagsabläufe der Vergangenheitsebene der Realität. Ich glaube, das ist nicht machbar, aber Cameron hat sich wissenschaftlichen Rat von Fachleuten geholt und lässt damit die Geschichte der Neandertalerin sehr realistisch und lebendig werden. 


Buchinfo:

btb (2020)
368 Seiten
Taschenbuch 11,00 €
ÜBERSETZUNG: Marie Rahn

Rezension: ©2021, Nanni Eppner

4 Kommentare:

  1. Das hört sich sehr interessant an. Ich mag Bücher, die in zwei Zeitebenen angesiedelt sind, sowieso sehr gern, aber ein Wechsel zwischen Gegenwart und Frühgeschichte ist mir tatsächlich noch nie untergekommen. Sehr spannend.
    Nur ein Frage: Denkst du, dass das Buch auch interessant ist, wenn man mit dem Thema Mutterschaft so gar nichts anfangen kann?

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    1. Ich glaube, das viele Gedanken einfach unerkannt bleiben, wenn man sich nicht mit der Ungleichheit, die Mutterschaft auslöst, beschäftigt. Im Grunde ist es eine feministische Geschichte, bezieht sich aber eben sehr auf den Punkt des Mutter seins.

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    2. Ich glaube, ich habe mich etwas unklar ausgedrückt. Die Ungleichheit, die Mutterschaft auslöst, ist mir bewusst und das ist auch ein wichtiges Thema. Ich habe eher überlegt, ob das Buch wohl etwas für mich ist, auch wenn ich persönlich kein Interesse daran habe Mutter zu sein.

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    3. Ach, dann habe ich es tatsächlich falsch verstanden. Das Mutter-sein steht hier stellvertretend für das gesellschaftliche Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau. Ich denke es ist einfach ein Beispiel an dem es sich sehr gut darstellen lässt.

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