10.02.21

Kindheit | Tove Ditlevsen



 

In „Kindheit“ erzählt Tove Ditlevsen vom Aufwachsen im Kopenhagen der 1920er Jahre in einfachen Verhältnissen. Tove passt dort nicht hinein, ihre Kindheit scheint wie für ein anderes Mädchen gemacht. Die Mutter ist unnahbar, der Vater verliert seine Arbeit als Heizer. Sonntags muss Tove für die Familie Gebäck holen gehen, so viel, wie in ihre Tasche hineinpasst, und das ist alles, was es zu essen gibt. Zusammen mit ihrer Freundin, der wilden, rothaarigen Ruth, entdeckt Tove die Stadt. Sie zeigt ihr, wo die Prostituierten stehen, und geht mit ihr stehlen. Aber eigentlich interessiert sich Tove für die Welt der Bücher und hat den brennenden Wunsch, Schriftstellerin zu werden – und dafür ist sie bereit, das Leben, wie es für sie vorgezeichnet scheint, hinter sich zu lassen.
(Text & Cover: © Aufbau; Foto: © N. Eppner)


Schon im Vorfeld wurde die Kopenhagen Trilogie von Tove Ditlevsen, die in ihrem Heimatland Dänemark längst bekannt ist und auch schon vor Jahren ins englische übersetzt wurde, sehr stark beworben und groß angekündigt. Dass man die Bücher der bereits verstorbenen Autorin jetzt ins deutsche übersetzte ist eher einem Zufall zu verdanken, aber gefühlt passen sie kaum besser, als in den aktuell stak aufbrandenden Diskussionen über Frauenrechte und Gleichheit. Obwohl die Situationen, die Ditlevsen beschreibt, bereits über 50 Jahre vergangen sind, habe ich das Gefühl, dass sich kaum etwas oder zumindest nur sehr schleichend ändert. 

Ungleichheit zwischen Männern und Frauen ist seit vielen Jahrzehnten, ja sogar Jahrhunderten vorhanden. Wie fest die Denkweise in unserer Gesellschaft verankert ist, kann ich an Ditlevsens Autobiografie zu deutlich erkennen. Frauen und Mädchen sind mit einer Schuld behaftet, die sie nur schwer wieder loswerden, und die heute noch fest in den Köpfen und von Männern und Frauen verankert ist. Es ist eine Rolle, in die wir Frauen geschoben wurden, und die es loszuwerden gilt, und da zählt jeder Satz. 

"Fräulein Matthiassen sagt, ich sei begabt und solle weiter die Schule besuchen dürfen. [...] Trotzdem frage ich meinen Vater, der mit einer Empörung darauf reagiert und abfällig über weibliche Abiturientinnen spricht, die hässlich und eingebildet seien." (S. 90)

Neben der Schuld der Weiblichkeit, die Ditlevsen immer wieder vorgehalten wird, steht der Mangel an Können und Nutzen. Obwohl sie bereits als junges Mädchen einen Faible für Sprache hat und ausgesprochen gut mit Sprache umgehen kann, was in ihr den Wunsch keimen lässt, Dichterin werden zu wollen, spricht man ihr diese Fähigkeit ab. Nur Männer werden Dichter und der Weg für Frauen...naja, den kennen wir ja. Heiraten, Kinder kriegen, den Mann umsorgen. Ganz selten lässt der Vater durchblicken, in wirklich guten Stunden, dass er es mag, dass seine Tochter sich für Worte interessieren, aber dann überfallen ihn wieder die alten Denkmuster und seine eigene Misere, die ihn ganz und gar einnimmt und keinen Raum für Empathie lässt.

Die Mutter ist noch weniger empathisch, verliert sich ganz in ihrer eigenen Bitterkeit. Ich glaube auch sie ist gezeichnet von Desillusionierung und eingesperrt in den engen Rahmen dessen, was ihr als Frau erlaubt ist. Für Tove hat sie wenig Herzlichkeit übrig, begegnet ihr kühl und hofft, dass die Tochter sie nicht noch weiter in Unannehmlichkeiten bringt. Die Handlungsunfähigkeit, in die sie als Frau getrieben wird, lädt sie auf Tove ab, belastet sie dadurch mit einer Schuld, die keine Schultern tragen können und schon gar nicht die eines Kindes.

"Wenn ich an die Zukunft denke, laufe ich ständig gegen Mauern, weshalb ich die Kindheit so lange wie möglich hinauszögern will." (S. 89)

Ein beklemmendes Gefühl begleitet mich beim Lesen. Es belastet mich wie traurig und beklemmend Dilevsens Kindheit ist. Meine eigenen Kinder begleite ich täglich mit dem Gedanken, dass Situationen des Alltags für mich nur ein Teil meines Alltags sind, für meine Kinder aber ein Stück ihrer Kindheit. Toves Kindheit wiegt so schwer wie ein ganzes Leben und trotzdem möchte sie darin verweilen. Nicht der schönen Momente wegen, sondern weil sie keine Zukunft für sich sieht oder vielmehr keine Zukunft, die ihr gefallen könnte. Der Mangel an Selbstbestimmung, an Aussicht auf ein Leben, in dem sie ihre Träume erfüllen kann, in dem sie sich Ziele setzen und diese verwirklichen kann, lässt Ditlevsen in ein negatives Lebensgefühl gleiten. Und trotzdem gelingt es ihr immer wieder eigene Ideen, eigene wünsche durchzusetzen. Oft heimlich, oft im Kleinen, aber Schritt für Schritt erobert sie sich ein wenig selbstbestimmtes Handeln. Ich bin gespannt wie es ihr gelingen wird ihre Jugend zu gestalten und freue mich sehr darauf die Bände "Jugend" und "Abhängigkeit" zu lesen.

"Wie alle Erwachsenen kann sie es nicht ausstehen, wenn Kinder fragen stellen, und gibt nur kurze Antworten. Wohin man sich auch wendet, ständig stößt man dabei gegen seine Kindheit und tut sich weh, weil sie kantig und hart ist und erst aufhört, wenn sie einen vollkommen zerrissen hat." (S. 35)

Besonders herausragend ist Ditlevsens Schreibe. Poetisch und von großer Kraft. Modern für das Jahrzehnt, in dem das Buch geschrieben wurde, zeitlos und eindringlich. Es gibt viele Sätze, die ich mehrmals lese, weil sie mir so gut gefallen oder sehr aussagekräftig sind. Ich möchte mir viele von ihnen notieren, merken, darüber nachdenken und sie in meinem Alltag als Antrieb für Umdenken und Respekt nutzen. Ich glaube, Ursel Allenstein hat ihre Aufgabe als Übersetzerin richtig gut gemeistert.


Buchinfo:

Aufbau (2021)
118 Seiten
Hardcover 18,00 €
ÜBERSETZUNG: Ursel Allenstein


Rezension: © 2021, Nanni Eppner

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