Das Leben im Berlin der Zwanzigerjahre gleicht einem Tanz auf dem Vulkan. Zumal sich die Magie auf der Straße und im Nachtleben breitmacht. Eine Frau verschwindet und taucht wenig später als Steinstatue wieder auf. Nazis machen mit einem aus dem Nichts beschworenen Adler Jagd auf politische Gegner, und selbst das Varieté fügt den ohnehin schon abgefahrenen Nummern ein paar übernatürliche hinzu. Sogar der Reichstag berät über die Möglichkeit einer Wiederbewaffnung mit magischen Mitteln.
Die junge Physikerin Nike Wehner arbeitet nicht nur wissenschaftlich daran, das neue Phänomen zu verstehen, sondern hilft auch der Berliner Polizei bei der Aufklärung magischer Verbrechen. Zur Seite stehen ihr der Bildhauer Sandor Černý und der kurz vor der Pension stehende Kommissar Seidel. Zusammen bilden sie die erste Spezialeinheit einer neuen Magiepolizei.(Text & Cover: © S. Fischerverlage; Foto: © N. Eppner)
Die Bücher der Vögte sind für mich Pflichtlektüre. Nicht nur, weil ihre Geschichten spannend sind, sondern auch, weil sie einen sehr kritischen Blick auf die Gesellschaft haben, sich feministisch engagieren und denen eine Stimme geben, die ausgegrenzt und in der Literatur immer noch wenig berücksichtigt werden.
So auch in "Anarchie Déco", das mich vor allem mit starken Protagonist*innen, die nicht dem Stereotyp der Figuren der Buchwelt entsprechen, sondern eine queere Gesellschaft darstellen, begeistert. Natürlich gibt es auch Gegenfiguren, die anders denken - immerhin spielt das Buch in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts -, aber gerade dadurch ist es Judith und Christian gelungen Mängel und Probleme in der Gesellschaft aufzuzeigen. Rassismus, Frauenfeindlichkeit, patriarchale Strukturen, etc.
Die Denkmuster der Gesellschaft hat sich im letzten Jahrhundert scheinbar nur wenig verändert. Der Hass der Nazis, deren Propaganda und die damit einhergehende Manipulation ist so realistisch und aktuell, dass ich beim Lesen ein beklemmendes Gefühl bekomme. Ebenso der Blick auf Menschen wie Nike, die in keine Schublade passt, die in einem im binären System weiblich geschriebenen Körper geboren wurde, sich aber wie eher Männertypisch kleidet, oder auf Markova, einer Figur, mit der das Autorenpaar spielt und sie zwischen im binären System männlich und weiblich gelesener Person hin- und herspringen lässt.
Wie immer haben Judith und Christian ganz viele Gedanken bei mir angestoßen. Ich merke das auch jetzt wieder, während ich die Rezension schreibe. Ich wünsche mir mehr so kluge Geschichten, die mich im Denken und in meiner Sprache fordern und aus konservativen Konstrukten herausholen und mich dabei unterstützen zu einer Person zu werden, die hinterfragt und aktiv an Themen der Gesellschaft teilnimmt. Judith und Christian helfen mir mit Romanen wie "Anarchie Déco" mich Handlungsfähig zu fühlen.
Mir hat "Anarchie Déco" so gut gefallen, dass ich das Buch nach dem Lesen nochmal als Hörbuch gehört habe. Ich habe zwar absolut keinen Plan von Physik, was dazu führte, dass ich einige der Versuchsaufbauten nicht verstand, aber meiner positiven Meinung zum Buch nimmt das nichts weg. Ich kann mir vorstellen, dass "Anarchie Déco" es schwer hat auf dem Buchmarkt, denn die Handlung ist nicht rasant und die Erwartungen an magische Elemente werden vom Klappentext meiner Meinung nach in eine andere Richtung gelenkt, als sie vom Roman erfüllt werden. Außerdem mögen nicht alle Leser*innen sich mit unangenehmen Themen auseinandersetzen. Trotzdem hoffe ich, dass "Anarchie Déco" viele Leserinnen und Leser findet. Ein kluges Buch, ein kritisches Buch, ein Text, dessen Handlung bzgl Menschenrechte und Menschenverachtung so realistisch und so nah an unserer Zeit ist, dass es für Beklemmungen sorgt, aber auch dafür handeln zu wollen. Um eine Stimme zu bekommen, um laut werden zu können, bedarf es Bücher wie dieses. Bücher, die stärken.
Buchinfo:
Fischer TOR (2021)
480 Seiten
16,99 €
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