1898 erwacht Joe Tournier ohne jegliche Erinnerungen am Bahnhof Gare du Roi in Londres. Die Welt steht Kopf: England ist französisch, und Joe wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Nur wenig später, als er wieder in Freiheit ist, trifft eine rätselhafte Postkarte bei ihm ein, die 90 Jahre zu ihm unterwegs war.
Auf der Postkarte ist ein Leuchtturm auf einer Insel in den Äußeren Hebriden mit dem Namen Eilean Mor abgebildet, auf der Rückseite steht ein kurzer Text: "Liebster Joe, komm nach Hause, wenn du dich erinnerst. M." Was hat es mit dem Leuchtturm auf sich und wie kann ein Mann mittleren Alters aus einer 90jährigen Vergangenheit heraus vermisst werden? Und wer ist M.? Joe macht sich schließlich auf die nicht ungefährliche Reise nach Schottland, um den Leuchtturm zu suchen und findet stattdessen einen Weg in die Vergangenheit. Unversehens gerät er in die Turbulenzen der großen Schlachten zwischen England und Frankreich, die lange vor seiner Geburt entschieden wurden. Schnell wird klar, dass jeder Schritt in die Vergangenheit auch seine Zukunft beeinflusst.
Joe leidet an einer epileptischen Amnesie. Immer wieder schwinden seine Erinnerungen, etwas, das er gerade erst erlebt hat, ist im nächsten Moment wieder aus seinem Gedächtnis gelöscht. Hin und wieder fällt ihm ein Erinnerungsfetzen zu. Eine Art Déja vu. Es scheint ihm als kenne er eine Frau namens Madeline. Als sei sie der Schlüssel zu seinen Erinnerungen. Als er eine über hundert Jahre alte Postkarte bekommt, auf der steht "Komm nach Hause, M." zieht es ihn zu einem mysteriösen Leuchtturm, der ein Schlüssel in all diesen Wirrungen sein könnte.
Ich rauschte geradezu durch "Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit". Vor dem Hintergrund des dritten napoleonischen Krieges entwirft Natasha Pulley eine Zeitreisegeschichte über Liebe, Schicksal, Verlust und Angst.
Roh sind die Zeiten, in denen gierige Männer über Leben und Tod entscheiden. Einer von ihnen ist Kite, der Pirat, der kämpft und mordet und versucht die Zeit für sich zu nutze zu machen. Eine Figur, die zunächst Antipathie auslöst und sich mehr und mehr ins Herz kämpft.
Die Sprache der Autorin ist zart und atmosphärisch. Ihr besonderer Stil enthält die Fähigkeit Bilder zu zeichnen, die ausdrucksvoll und fantastisch sind, die wärmen, nähren, aber auch erschüttern. Sie ist eine derjenigen, die dir unter die Haut schreiben. Anfangs ist etwas Durchhaltevermögen gefragt, denn nicht alle Elemente scheinen schlüssig oder einen Sinn zu ergeben. Erst nach und nach erschließen sich die Handlungen und fügen sich am Ende zu einem wunderschönen Bild zusammen, dass ich mir sicher gerne wieder ins Gedächtnis rufen werde.
Auch die Geschichte ist etwas sehr besonderes. Es gelingt Pulley mühelos vor dem historischen Hintergrund moderne Gedanken einfließen zu lassen. Sie wird es nicht müde zu betonen, wie sehr Frauen in der Ehe dem Patriarchat unterliegen können und dass es gelingen kann ein System zu erschaffen, in dem Arbeit und Kinderbetreuung einhergehen.
Ich würde gerne noch so viel mehr sagen, aber zu schnell ist zu viel verraten und ich möchte niemandem den Genuss nehmen, Handlungen und Gedanken selbst kennenzulernen. "Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit" hat etwas magisches, ohne klassische Elemente einer magischen Fantasygeschichte zu enthalten. Es geht ein gewisser Zauber von der Geschichte aus, die sich fühlen, aber nur schwer in Worte fassen lässt. Daher setze ich auf dein Vertrauen, wenn ich dir sage: lies es. Es wird dich traurig, aber auch sehr glücklich machen.
Buchinfo:
Klett Cotta Hobbit Presse (2022)
Hardcover mit Schutzumschlag
544 Seiten
25,- €
Deine Liebe zu Büchern spürt man sofort;)
AntwortenLöschenDas ist ja toll! Gerade erst ist mir dieser Roman untergekommen und ich habe überlegt, ob der was für mich sein könnte und gleich darauf finde ich bei dir diese Rezension. Damit wandert er jetzt definitiv auf meine Liste. Hast du "Der Uhrmacher in der Filigree Street" auch gelesen?
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