16.05.20

Das Mädchen aus der Severinstraße | Annette Wieners




Als Sabine Schubert nach dem Tod des Großvaters ihrer Großmutter Maria hilft, das Haus aufzuräumen, kommen unter dem großen, schweren Teppich im Wohnzimmer alte Geldscheine zum Vorschein. Im Keller finden die Frauen Gold und begreifen, dass der Großvater vor langer Zeit ein Vermögen versteckt haben muss. Nur warum? Maria beschleicht eine Ahnung und sie gerät völlig außer sich. Sabine wird klar, dass in der Familiengeschichte erschreckende Lücken aufklaffen. Hat der Großvater in der angesehenen Kölner Metallgussfirma wirklich nur Spielzeug hergestellt? Auch die Großmutter scheint aus ihrer Zeit als berühmtes Fotomodell Einiges zu verschweigen. Damals, Ende der 1930er-Jahre, hieß sie Mary Mer und lernte den jüdischen Fotografen Noah kennen, den sie bis zum heutigen Tag nicht vergessen hat ...
(Text & Cover: © Blanvalet; Foto: © N. Eppner)

Es sind Geschichten wie "Das Mädchen aus der Severinstraße", die gegen das Vergessen helfen. Die von der Brutalität und Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus erzählen und wie nachhaltig er die Leben einzelner Menschen beeinflusst. Obwohl ich schon einige wahre und fiktive Geschichten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gelesen habe, bin ich immer wieder von neuem erschüttert. Entsetzt und traurig. Annette Wieners hat mir mit ihrem Roman, der angelehnt ist an die Vergangenheit ihrer eigenen Großmutter, aber nicht biografisch erzählt, die Tränen in die Augen getrieben. Mehr als einmal.

Erzählt wird auf zwei Ebenen. Aus der Sicht von Sabine Schubert und ihrer Großmutter Maria Schubert, einst bekannt als das Fotomodell Mary Mer, einer jungen Frau, die den deutschen Typ Frau so deutlich verkörperte, dass Hitlers Gefolgsleute auf sie aufmerksam wurden. Maria, rein arischen Blutes seit 1772, verliebt in einen jüdischen Fotografen, verehrt von den deutschen rechtsgerichteten Soldaten, die menschenverachtend handeln, sich arrogant über andere stellen, töten. Maria, die hilfsbereit ist und über einen Gerechtigkeitssinn verfügt und weder ihr Gesicht noch ihren Namen für etwas hergeben möchte, in dessen Sinne Menschen hingerichtet werden. Maria, die sich mit gefährlichen Menschen anlegt.

Die Erlebnisse des Krieges hallen noch über Generationen nach. Verluste, Ängste, Leere und Schuld haften an denen, die den Krieg mit seinen Schrecken erlebten, werden an Kinder weitergegeben, manchmal an Enkel. Menschen sind nicht mehr in der Lage gesunde Beziehungen zu führen, bleiben misstrauisch, verweilen in der Vergangenheit mit ihren Ängsten oder Hoffnungen. Diese Problematiken der Nachkriegsgenerationen werden von Annette Wieners sehr gut dargestellt. Sie nutzt eine zweite Erzählebene, die etwa in der Gegenwart spielt und die Sabine Schubert, die Enkelin von Maria in den Vordergrund stellt. Sabine hat mit dem Verlust der Mutter zu kämpfen und wiederholt ein Erlebnis der Großmutter, ohne überhaupt eine Ahnung davon zu haben, dass sie beide eine ähnliche Situation durchlaufen bzw. erlebt haben. 

Ich habe ganz winzig kleine Probleme mit der Sprache, die teilweise ein wenig simpel wirkt, prinzipiell aber gut zur Naivität der Situation passt, die teilweise zur NS-Zeit herrschte und die manche Menschen tatsächlich glauben ließ, das irgendwie alles gar nicht so schlimm sei. Außerdem gibt es einen Erzählstrang, der mit inhaltlich etwas aufstößt, einfach, weil ich da vom Fach bin und die Arbeitsweise der dargestellten Personen, als fragwürdig erachte.

Das alles sind Randkritiken, die eine untergeordnete Rolle spielen, denn im Vordergrund steht, was Wieners mit ihrem Roman gelingt: aufrütteln. Schockieren. Aufklären. Sensibilisieren.

Für mich ist Köln eine der schönsten Städte Deutschlands. Ich mag es, weil es bunt und trubelig ist. Tolerant und fröhlich. Dass Köln einst eins der Nazizentren war, in denen der Nationalsozialismus schnell und mehr als deutlich übergreifen konnte, war mir nicht bewusst. Es ist von roher Gewalt und hoher Brutalität die Rede. Von wenig Hilfsbereitschaft. Man kann es den Menschen, die heute dort leben, nicht vorwerfen, aber es darf nun mal nicht in Vergessenheit geraten.

Annette Wieners hat einen extrem spannenden Roman geschrieben, der mich sehr berührte. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen, obwohl ich so viele Tränen vergossen habe. Für die Menschen, die damals gestorben sind, und für alle, die nicht die Eltern bekommen konnten, die sie verdient hätten, weil ein verrückter Mensch, eine wahnsinnige Ideologie deren Psyche und Menschlichkeit zerstörte. Lest dieses Buch, redet darüber, teilt es und gebt weiter, was ihr wisst, damit wir nie wieder in solch eine Situation geraten.

Buchinfo:

Blanvalet (2019)
480 Seiten
Hardcover 20,00 €



Rezensionen: © 2020, Nanni Eppner


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